Am 22. November 2014 verfasste der Chefredakteur des "Kurier", Helmut Brandstätter, einen Leitartikel mit dem Titel "Wir brauchen Eliten – aber richtige Eliten".
Der
Text ist – in Inhalt und Wortwahl – ein Musterbeispiel für
Journalismus, der die Leser/innen im Sinne der Blattlinie bzw. der
dahinterstehenden Ideologie manipulieren möchte; Journalismus, dessen
Absicht es ist, das Denken und das Bewusstsein der Leserschaft gezielt
in eine gewünschte Richtung zu steuern.
Um das zu belegen, seien die Kernpunkte des Artikels herausgegriffen:
1.
Schon
im ersten Absatz wird klargemacht, wo es für Brandstätter gesellschaftspolitisch langgeht – und daher auch für die Leser/innen langgehen soll. Er schreibt, dass es in Österreich um einen "komplizierte[…]n Verteilungskampf" gehe, meint dabei aber nicht etwa eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung. (Die von ihm als "SPÖ-Parole" bezeichnete Forderung "Die Reichen sollen zahlen" hält Brandstätter ausdrücklich für "zu schlicht".) Der Verteilungskampf, wie ihn Brandstätter konstruiert, betrifft vielmehr
"die Frage, ob junge Leute in unserem saturierten, aber kaum noch finanzierbaren Wohlfahrtsstaat eine Chance haben."
Damit
sind die Fronten bereits klar abgesteckt: die chancenlosen jungen Leute
auf der einen Seite – der böse Wohlfahrtsstaat, der den Jungen eben
diese Chancen nimmt, auf der anderen. Das ist die inhaltliche Ebene. Und
auch sprachlich wird schon am Beginn des Artikels fest daran
gearbeitet, bei den Leser/innen gegen etwaige sozialromantische Flausen
Stimmung zu machen: Brandstätter spricht von "unserem saturierten […] Wohlfahrtsstaat". "Saturiert" – also (laut Duden) "mehr als satt, allzu satt", anders gesagt: übersättigt.
Ein
Staat selbst kann schwerlich als saturiert angesehen werden, wenn er
unter chronischer Budgetknappheit leidet. Also meint Brandstätter
offensichtlich die Menschen, die Teil dieses Staates sind – dabei allerdings auch nicht die Reichen oder den immer wieder ins
Treffen geführten sogenannten Mittelstand (wo ja tatsächlich mit gutem
Grund von "saturiert" gesprochen werden könnte und müsste). Indem er vom
saturierten "Wohlfahrtsstaat" spricht, macht Brandstätter
deutlich, wo er konkret die Übersättigung ortet: bei jenen Teilen der
Gesellschaft, die der öffentlichen Hand potenziell Kosten verursachen
(in Form von Sozialleistungen, Pensionszuschüssen usw.).
Wie es
um die vermeintliche Saturiertheit dieser Personengruppe bestellt ist,
zeigt sich unter anderem an nachstehenden Fakten (nur zwei Beispiele
seien stellvertretend genannt):
- In einem Kurier-Interview vom
Oktober mit einem der Gründer einer Reihe von Sozialmärkten (Gerhard
Steiner) kam zur Sprache, dass in Österreich rund 1,1 Millionen Menschen
armutsgefährdet seien (und das Potential der Sozialmärkte klarerweise
gar nicht ausreichend sei, um all diese Personen mit sogenannter
"Überschussware" zu versorgen). Also 1,1 Millionen Armutsgefährdete, von
denen ein Bruchteil mit einer Art Almosen versorgt wird, die in privat
initiierten Sozialmärkten zur Verfügung gestellt werden (siehe dazu
meinen ausführlichen Kommentar zum Konzept der Sozialmärkte in diesem Beitrag). So sieht also ein "saturierter Wohlfahrtsstaat" aus?
-
Beispiel zwei: Nur einen Tag nach dem hier erörterten Leitartikel
erschien in der Beilage zur Kronen-Zeitung ein Artikel über eine
Mindestpensionistin. (Nicht, dass die Kronen-Zeitung auch nur in
irgendetwas der Maßstab sein sollte; die ist ein noch größeres mediales
Übel als der Kurier; aber zur Illustration ein paar nüchterner Fakten
taugt sie allemal.) Die Frau ist 67 Jahre alt, soll "jahrelang als
Abteilungshelferin in einem Wiener Krankenhaus" gearbeitet haben und als
Mindestpensionistin "ein bisschen mehr als 800 Euro pro Monat"
bekommen. Dabei werde die "Hälfte des Geldes fürs Wohnen" (eine 48 m²
große Gemeindewohnung) aufgebraucht.
Herr Dr. Brandstätter möge
doch einmal probieren, nach Abzug allfälliger Mietkosten mit rund 400
Euro im Monat über die Runden zu kommen, und prüfen, ob er sich dann
übersättigt fühlt.
Wie die beiden Beispiele belegen, steckt also
hinter Brandstätters Diktion vom "saturierten Wohlfahrtsstaat" – nebst
aller anderen Unanständigkeit – blanker Zynismus.
2.
Es
ist auch nur konsequent für Brandstätters neoliberale Ausrichtung, dass
sein Mitgefühl nicht etwa den Mindestpensionist/innen oder sonstigen
armen oder armutsgefährdeten Menschen gilt, sondern vielmehr folgender Personengruppe:
"[…] durchaus gut ausgebildete
Angestellte und Kleinunternehmer haben auch bei gutem Einkommen
überhaupt keine Chance zu bescheidenem Wohlstand zu kommen, da ja jeder
Zuwachs enorm besteuert wird. Bei Preisen von 5000 Euro und mehr pro
Quadratmeter Wohnung ist auch die viel beschworene Bildung von Eigentum
fast unmöglich geworden."
Hätte Brandstätter einen Funken
sozialen Gewissens, wäre ihm beispielsweise eine menschenwürdige Pension
für alle ein größeres Anliegen als der "bescheidene Wohlstand" und die
"Bildung von Eigentum" bei jenen, die seinen eigenen Aussagen zufolge
wenigstens brutto über ein "gutes Einkommen" verfügen. Bei denen wird
zwar jeder Zuwachs "enorm besteuert", wie er dramatisch schreibt; aber
aus Geldmangel in einer kalten Mietwohnung sitzen oder abgelaufene
Lebensmittel im Sozialmarkt kaufen – das müssen diese Leute, anders als
etwa manche Mindestpensionist/innen, sicherlich nicht.
3.
Ein
Lichtblick ist für Brandstätter naturgemäß die Industriellenvereinigung
(IV), als deren mediale Erfüllungsgehilfen er und seine
Stellvertreterin Martina Salomon ja auch brav jede Woche Leitartikel
fabrizieren, welche dieser Interessenvertretung maßgeschneidert ins
Konzept passen. Die Industriellenvereinigung habe "ihre Verantwortung wahrgenommen", stellt Brandstätter fest. Er findet nämlich:
"Das Schulprogramm, das [von der IV] in dieser Woche vorgestellt wurde, ist bar jeder Ideologie, nur auf Leistung und Effizienz ausgerichtet."
Besser
kann man die Gefährlichkeit eines solchen Schulprogramms gar nicht
beschreiben, als es Brandstätter damit selbst getan hat. Denn was von
einem Bildungswesen zu halten ist, das "nur auf Leistung und Effizienz
ausgerichtet" ist, haben mittlerweile diverse Personen dargelegt, deren
Standpunkten und Aussagen zweifellos ungleich mehr Vertrauen entgegenzubringen ist als jenen des Chefredakteurs einer von der
Wirtschaft und deren Interessen gesteuerten Boulevardzeitung. Genannt
seien zum Beispiel Konrad Paul Liessmann, Manfred Prisching und Martha
C. Nussbaum, die sich in ihren Büchern mit einschlägigen bildungs- und
demokratiepolitischen Fragen befasst haben.
Das Schulkonzept der Industriellenvereinigung lässt sich hier nachlesen:
http://www.iv-net.at/d4300/beste_bildung.pdf
bzw. in einer Kurzversion hier:
http://www.iv-net.at/d4301/beste_bildung_kurzversion.pdf
Darin steht zum Beispiel über die Schulzeit (Seite 21 der "Langfassung", aufgerufen am 25.11.2014):
"Die
neue Schule lebt einen verschränkten, gemeinsamen Ganztagsunterricht durch die Aufteilung des Schultages in eine Kern- und Erweiterungszeit
(optional von 7:00 bis 19:00 Uhr mit Früh- und Spätbetreuung inkl. Mittagessen; ganztägig, verschränkte Lern- und Freizeitangebote
innerhalb der Kernzeit von 8:30 und 15:30 Uhr sowie Kooperation und
Inanspruchnahme außerschulischen Freizeitangebots darüber hinaus)."
Es
ist schon einmal bemerkenswert, dass die Herrschaften in der
Industriellenvereinigung sich zwar für kompetent halten, ein Konzept mit
dem bombastischen Titel "Beste Bildung für Österreichs Zukunft"
vorzulegen, aber nicht einmal imstande sind, ihre Vorstellungen in
einem klaren und korrekten deutschen Satz zu formulieren. Was man aus
dem zitierten konfusen Wortsalat gerade noch zweifelsfrei
herausinterpretieren kann, ist das, was in diesem Zusammenhang auch in
den Medien berichtet wurde: Dass der Schulbesuch für alle Kinder von
8.30 Uhr bis 15.30 Uhr verpflichtend sein soll (im IV-Konzept ganz in
betrieblicher Diktion als "Kernzeit" tituliert), und dass es darüber hinaus auch schon zuvor (ab 7 Uhr) und danach (bis 19 Uhr) optional eine Betreuung geben soll.
So
wichtig den Industriellen immer ihre unternehmerische Freiheit ist, so
wenig Bedeutung messen sie der Freiheit bei, wenn es nicht um ihre
eigenen Angelegenheiten geht: Immerhin wäre denkbar, dass sich manche
Familien wünschen, dass ihre Kinder nicht täglich 7 Stunden lang in
einer Schule verbringen müssen. So etwas ist aber für die
Industriellenvereinigung unbeachtlich. Denn je länger die Kleinen in der
Schule sind, desto nützlicher ist das für die Unternehmen – und zwar
gleich in doppelter Hinsicht:
- Vater und Mutter können sich mit
ganzer Kraft dem Job widmen, ohne wertvolle Zeit und Energie für die
Beaufsichtigung ihrer Kinder verschwenden zu müssen.
- Und die
Kinder selbst können durch entsprechende 7-stündige Intensivbetreuung
(die im Bedarfsfall durchaus auch 12 Stunden ausmachen darf) zu dem
trainiert werden, was die Wirtschaft als Ergebnis des solcherart durchlaufenen "Bildungs"-Prozesses haben möchte: eifrige Arbeitskräfte
und brave Konsument/innen. (Ja – auch Letztere werden bereits in der
Schule herangezüchtet. Man denke nur an die seit mehreren Jahren
erlaubte Werbung in Schulgebäuden.)
Also alles ganz auf "Leistung
und Effizienz ausgerichtet", wie das Brandstätter zutreffend
konstatiert und leider als Tugend des IV-Programms qualifiziert.
Zufällig
bin ich gerade heute auf zwei Sätze gestoßen, die mich sofort an die
Initiative der Industriellenvereinigung erinnert haben: Brigitte Witzer
kritisiert in ihrem Buch "Die Diktatur der Dummen",
dass eine von den Interessen der Wirtschaft geleitete Organisation wie
die OECD mittels der berühmten PISA-Studie die Dominanz in Schul- und
Bildungsfragen erlangt hat (s. insbesondere Seite 114 ff. ihres Buches).
Unter Bezugnahme darauf kommt sie zu folgendem Schluss (Seite 182):
"Die
Führung der Bildungsdiskussion hat […] die OECD als Wirtschaftsorganisation übernommen; die Politik tut sich nicht leicht,
sich dieses Feld zurückzuerobern. Dieses Hijacking von relevanten
Veränderungsthemen durch Lobbyisten oder wirtschaftsnahe Organisationen
scheint sowieso ein probates Mittel zu sein – sowohl für die
wirtschaftsfreundliche Steuerung übergreifender Change-Prozesse als auch
für die Profitsicherung durch Verwirtschaftlichung dieser Prozesse."
Was
Witzer hier (in etwas kryptischer Management-Sprache) zum Ausdruck
bringt, lässt sich meines Erachtens vortrefflich auf die Industriellenvereinigung
und deren aktuelles Engagement in Schul- und Bildungsangelegenheiten anwenden.
4.
In Brandstätters Leitartikel fällt dann (nach der Nennung in der Überschrift) zum ersten Mal das Wort "Eliten". Im Anschluss an sein Lob zum erörterten Schulkonzept der IV meint er:
"Wenn
die großen Unternehmer dieses Landes ihre Funktion als Eliten ebenfalls
wahrnehmen, dann müssen sie aber auch den nächsten Schritt denken: […]"
Dieser
nächste Schritt ist für Brandstätter die Möglichkeit zur Betriebsgründung für junge, gut ausgebildete Leute; weiters die Zurverfügungstellung von Wagniskapital sowie ein "Beitrag der Industriellen zu einem wirklich leistungsorientierten Steuersystem".
Dann folgt ein Satz, den man bei wohlwollender Interpretation sogar als
ein Befürworten der Erbschafts- und Vermögenssteuer deuten könnte:
"Es
ist kein Zufall, dass kapitalistische Gesellschaften deutlich
niedrigere Einkommenssteuern haben, weil dadurch Leistungswillige
motiviert sind, während sich der Staat Geld von Erbschaften und Vermögen
holt."
Gleich darauf rudert Brandstätter aber schon wieder zurück, indem er schreibt:
"Freilich
ist in diesen Staaten das gesamte Aufkommen an Abgaben und Steuern
deutlich niedriger als bei uns. Und die Eigenverantwortung der Bürger
wird stärker nachgefragt."
Mal ganz abgesehen davon, dass unklar ist, welche konkreten Staaten Brandstätter mit "diesen Staaten" meint ("kapitalistische Gesellschaften" sind heutzutage nahezu alle Nationen); ebenso abgesehen davon, ob Brandstätters Behauptung über das dort "deutlich niedrigere" Abgabenniveau überhaupt der Wahrheit entspricht; drittens abgesehen davon, dass die Annahme einer stärkeren Präsenz von "Eigenverantwortung der Bürger" in "diesen Staaten" eine völlig undifferenzierte und unbelegte Floskel ist. Es bleibt immer noch die Frage:
In
welchem Zusammenhang steht all das (aus der Sicht Brandstätters) nun
letztlich mit der Einführung oder Nichteinführung einer Erbschafts- und
Vermögenssteuer? Soll sie kommen, oder soll sie nicht?
Für mich
ist Brandstätters Herumlavieren nur damit zu erklären, dass sich
mittlerweile sogar er schon damit schwertut, die extrem ungleiche
Vermögensverteilung in Österreich zu verschweigen, zu ignorieren oder
womöglich gar gutzuheißen. (Nur seine Stellvertreterin Salomon hat damit
immer noch kein Problem.) Wieder sei daran erinnert: 1% der österreichischen Bevölkerung besitzt 40% des Gesamtvermögens! Weil
dieser unfassbare Umstand mittlerweile doch nicht mehr so ganz als
salonfähig gilt, fühlt sich anscheinend sogar Brandstätter veranlasst,
alibimäßig einen verklausulierten Satz wie den oben zitierten in einen
Artikel einzubauen: nämlich, dass sich "in kapitalistischen
Gesellschaften" der Staat "Geld von Erbschaften und Vermögen holt". Wohl
mit ähnlichen Beweggründen heißt es im Untertitel zur Überschrift
seines Leitartikels:
"Die Gesellschaft zerfällt. Das liegt an der ungleichen Verteilung von Vermögen [hört, hört!], aber nicht nur daran."
Der
kritische Hinweis auf die ungleiche Verteilung von Vermögen kommt
übrigens nur an dieser Stelle. Im eigentlichen Text des Leitartikels ist
davon (abgesehen von einer beiläufigen Bemerkung über große
Erbschaften) mit keinem Wort mehr die Rede. Und selbst der Alibi-Hinweis
wird ja umgehend mit dem Nachsatz relativiert, dass es "aber nicht nur daran" liege (dass die Gesellschaft zerfalle).
Geschrieben
wird also nach dem Motto: einen zaghaften Schritt vor (um den Schein zu
wahren) und dann gleich wieder zwei Schritte zurück – seien diese zwei
Schritte auch noch so holprig, indem sie auf völlig unschlüssigen oder
unklaren Überlegungen beruhen. Hauptsache, es kommen dabei sofort wieder
modische neoliberale Schlagworte wie "hohes/niedriges Abgabenaufkommen"
und "Eigenverantwortung des Bürgers" vor und machen den ohnehin nur
nebulosen Verweis auf Vermögenssteuern schnell vergessen.
5.
Besonders manipulativ wird es im letzten Absatz des Leitartikels. Er lautet:
"Wohlhabende
Österreicher erzählen manchmal im kleinen Kreis von ihrem sozialen
Engagement. Kaum einer will öffentlich darüber reden, aus Angst vor
Neid. Aber Neid ist eine destruktive Emotion – und Leistungseliten
brauchen sich nicht zu schämen, ganz im Gegenteil."
Manipulativ
sind diese Sätze gleich aus mehreren Gründen (und vielleicht sogar noch
aus weiteren, die mir gar nicht bewusst geworden sind):
• Nehmen
wir rein fiktiv an, es gäbe einen solchen Neid tatsächlich. Wieso
sollten die angeblich Beneideten "Angst" davor haben? Tut ihnen der
(behauptete) Neid weh? Oder fürchten die Wohlhabenden, dass durch den
Neid eine Revolution im Land ausbrechen könnte? Es ist einfach absurd,
von einer "Angst vor Neid" herumzufantasieren.
• Brandstätter
suggeriert, dass diese (von ihm behauptete) Angst der Wohlhabenden
berechtigt wäre: Er stellt die reale Existenz dieses Neids implizit als
gegeben hin und bezeichnet ihn als "destruktive Emotion". Das ist ein ebenso beliebter wie unverschämter Trick, der leider permanent angewendet wird (nicht nur von Journalisten):
Kritik
an sozialer Ungerechtigkeit wird nicht als solche akzeptiert und
respektiert, sondern es wird postwendend unterstellt, sie wäre nur der
Ausdruck von Neid. Damit wird der Kritiker persönlich verunglimpft, und
ein Eingehen auf seine Kritik erspart man sich auch. Wenn man (wie
Brandstätter) die Kritik (pardon: den Neid) dann auch noch als
"destruktive Emotion" bezeichnet, dann ist vollends klar, worauf diese
Sicht der Dinge hinausläuft: Die Kritiker (abermals pardon: die Neider)
werden als fast schon pathologische Unruhestifter angesehen, die durch
ihr Verhalten die bestehende Ordnung zerstören wollen.
Soooo
deutlich schreibt Brandstätter das natürlich (noch?) nicht. Sollte es
aber sogar im notorisch konfliktscheuen und duckmäuserischen Österreich
jemals zu sozialen Protesten oder gar Unruhen kommen und dabei zum
Beispiel auch nur eine einzige Auslagenscheibe aus Protest eingeschlagen
werden, so kann man sicher sein, dass die "destruktive Emotion" genau
in der erwähnten Weise journalistisch konkretisiert werden wird (und das
natürlich nicht nur vom "Kurier").
• Dass sich die Wohlhabenden
aus Angst vor Neid nicht trauen würden, ihr soziales Engagement in der
Öffentlichkeit zu deklarieren – das ist auch durch die Realität
hinreichend widerlegt. Von der Angst ist nämlich nichts zu merken – ganz
im Gegenteil: Ständig gibt es irgendwelche öffentlichkeitswirksamen
Benefizveranstaltungen, zu denen begüterte Personen ein Almosen
beisteuern; am laufenden Band sieht man in den Klatschspalten der
Zeitungen und in den ORF-"Seitenblicken" gelangweilte Reiche, die sich
mit ihrem ach so tollen "sozialen Engagement" medienwirksam wichtig
machen. Jetzt – in der Zeit vor Weihnachten – wird das wieder besonders
penetrant. Mit "Angst vor Neid" ist so etwas nicht vereinbar.
•
Ein substanziellerer Kritikpunkt: Wie kommt es, dass in einem
"saturierten Wohlfahrtsstaat", wie ihn Brandstätter in Österreich zu
erkennen meint, überhaupt noch das "soziale Engagement" von
Privatpersonen erforderlich ist? Letzteres müsste doch überflüssig sein,
wenn der Wohlfahrtsstaat doch ohnehin alle "mehr als satt / allzu satt"
macht. Fazit: A) Entweder kann von einem "saturierten Wohlfahrtsstaat"
in Wahrheit doch nicht die Rede sein. Oder B) Brandstätters G'schichterl
von den Reichen, die verängstigt nur "im kleinen Kreis" über ihr
soziales Engagement reden, ist schlicht und einfach erfunden. Es könnte
natürlich auch sein, dass beide Hypothesen in Kombination zutreffen. Mir
scheint das sogar die wahrscheinlichste Variante zu sein.
• Und im Schlusssatz kommt dann eines der abgedroschensten Schlagwörter überhaupt zum Einsatz: jenes der "Leistungseliten".
(Gern verwendet wird ja auch der Ausdruck "Leistungsträger"; aber wenn
von "Eliten" die Rede ist, wird überdies gleich begrifflich klargemacht,
dass man es hier mit menschlichen Spitzenexemplaren zu tun hat, denen
mit entsprechender Ehrfurcht zu begegnen ist.) In einer schleimigen
Anbiederung an die Reichen (wir werden gleich sehen, inwiefern) schreibt
Brandstätter also: "und Leistungseliten brauchen sich nicht zu schämen, ganz im Gegenteil".
Man beachte, welcher sprachliche Trick hier angewendet wurde: Die "Wohlhabenden",
von denen in den zwei vorangegangenen Sätzen die Rede war, werden durch
den letzten Halbsatz des Leitartikels kurzerhand mit den "Leistungseliten"
gleichgesetzt. Also die immer gleiche unverschämte Finte aller
Konservativen und Wirtschaftsliberalen, zu suggerieren, dass Reichtum
gleichbedeutend mit Leistung wäre: Wer wohlhabend ist, der sei es
deshalb, weil er eine Leistung erbracht habe. (Notwendige
Nebenbemerkung: Dass der Begriff "Leistung" näher zu definieren wäre,
sei mal dahingestellt. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass über
seinen Inhalt Klarheit bestünde.)
Die Gleichung von Brandstätter
und allen seinen Geistesverwandten (das Wort "Gesinnungsgenossen" wäre
ihm sicherlich viel zu links) lautet also:
Reichtum = Resultat von Leistung
Dem
halte ich zwei "Gleichungen" des bekannten Kirchenkritikers Karlheinz
Deschner entgegen. Er hat in seiner Aphorismensammlung "Ärgernisse" (1.
Auflage, 1994) auf Seite 51 geschrieben:
"Reichtum ist selten mehr als der Rest von Verbrechen."
"Große Vermögen und große Verbrechen gehören gewöhnlich zusammen wie Dotter und Ei."
Ich halte es mit den "Deschner-Gleichungen". Durch die Einschränkungen "selten" bzw. "gewöhnlich"
gesteht Deschner immerhin sogar zu, dass es in Ausnahmefällen anders
sein mag. (Für Brandstätter bilden hingegen die "Wohlhabenden" gleich in
Bausch und Bogen die "Leistungselite", die sich nicht "schämen" müsse.)
"Wir brauchen Eliten – aber richtige Eliten"
fordert Brandstätter in der Überschrift seines Leitartikels. Nach
Lektüre und selbst nach ausgiebiger Analyse seines Texts wissen wir in
der Sache auch nicht viel mehr zu seinem Postulat (außer dass für ihn
"die großen Unternehmer" eine "Funktion als Eliten" hätten und die
"wohlhabenden Österreicher" sogenannte "Leistungseliten" seien). Doch
dafür sind wir wieder einmal mit einem Schwall von konfusen
Überlegungen, hohlen Schlagworten und unbelegten Behauptungen
konfrontiert worden.
Was mir persönlich nach Studium des
Leitartikels aber immerhin klar geworden ist: Zur journalistischen Elite
zählt sein Verfasser nicht.