Dienstag, 13. Januar 2015

In der Geiselhaft von "Charlie Hebdo"

Am 7. Jänner 2015 überfielen zwei mutmaßlich islamistische Attentäter das Pariser Redaktionsbüro der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" und töteten insgesamt 12 Menschen (darunter den Herausgeber der Zeitschrift, mehrere Zeichner  und einen zum Personenschutz in der Redaktion anwesenden Polizisten). Der Anschlag war offensichtlich ein Racheakt dafür, dass in "Charlie Hebdo" Karikaturen veröffentlicht wurden, die den Islam bzw. die Moslems zum Gegenstand hatten. 

(Eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse gibt es zum Beispiel bei Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_Charlie_Hebdo )

Einleitend sei dazu Folgendes klargestellt:

- Der Anschlag ist durch nichts zu rechtfertigen, und er ist vorbehaltlos zu verurteilen (ebenso wie eine damit in Verbindung stehende Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt am Tag darauf).

- Kritik an (jeder) Religion muss zulässig sein. Ja sie ist aus meiner (durch und durch atheistischen) Sicht sogar notwendig.

Diese beiden Prämissen zu befürworten, heißt allerdings keineswegs, sich mit jenen Anschauungen zu identifizieren, die seit dem 7. Jänner die westliche Gesellschaft (und deren Medien sowieso) dominieren, ja geradezu monopolisieren.

Ihren plakativsten Ausdruck finden diese Anschauungen in der derzeit an allen möglichen Orten kursierenden, einfältigen Parole "Je suis Charlie" ("Ich bin Charlie"):

Menschen laufen mit entsprechenden Transparenten herum; die Tageszeitung "Kurier" (die natürlich bei jeder zeitgeistigen Dummheit dabei ist) druckt das entsprechende Logo auf den Politik-Seiten ihrer Wochenend-Ausgaben ab; auch der Fernsehsender "Arte" drängt die Parole seinem Publikum auf, indem er das Logo in seinen Programmen permanent am Bildrand platziert; und selbst ein sonst so klar, nüchtern und in vielen Belangen human denkender Mensch wie der griechische Schriftsteller und Journalist Nikos Dimou veröffentlichte schon am 7. Jänner das Logo kommentarlos in seinem Blog.

"Ich bin Charlie" meinen sie alle. Ich hingegen bin es sicherlich nicht. Im Gegenteil: ich bin ein Gegner dieser Zeitschrift und der für ihren Inhalt Verantwortlichen. Daran ändert auch die Ermordung einiger dieser Leute nichts.

Der Grund für meine Gegnerschaft ist sehr einfach erklärt:

Ein kurzer Blick ins Internet genügt, um zu erkennen, worum es bei den sogenannten "islamkritischen" Karikaturen dieser Zeitschrift durchwegs geht: um Spott, Beleidigung, Verletzung von Gefühlen, Verächtlichmachung und Hetze.

Das hat teilweise ganz schlimme Auswüchse angenommen. (Demgegenüber könnte man die Islam-Karikaturen, die 2005 die dänische Zeitung "Jyllands-Posten" veröffentlicht hatte und die so viel Aufruhr verursachten, als geradezu liebevolle Darstellungen bezeichnen.)

Details darüber, was sich "Charlie Hebdo" diesbezüglich erlaubt hat, möchte ich hier weder beschreiben noch verlinken. Im Internet sind, wie gesagt, die einschlägigen Nachweise (mühelos) zu finden.

Was haben all die "Ich-bin-Charlie"-Bekenner dazu zu sagen? (Sofern sie überhaupt etwas sagen und sich nicht ohnehin mit der geistlosen Wiedergabe der entsprechenden Parole bzw. des zugehörigen Logos begnügen.) Von ihnen hört man typischerweise, dass ihnen zwar manche Karikaturen in "Charlie Hebdo" auch nicht gefielen, aber dass sie für die Freiheit der Meinungsäußerung (bzw. für die Pressefreiheit) seien.

Dieser floskelhaft und undifferenziert vorgebrachten Berufung auf die Freiheit der Meinungsäußerung (Pressefreiheit bzw. allenfalls Kunstfreiheit sind im Folgenden immer mit gemeint) ist vor allem zweierlei entgegenzuhalten: 

1.
Auch Meinungsäußerungsfreiheit hat ihre Grenzen – oder besser gesagt sollte sie diese haben: nämlich einerseits dann, wenn andere Menschen durch die (öffentliche) Äußerung grob und grundlos beleidigt oder in ihren Gefühlen verletzt werden; andererseits in Fällen, wo die Äußerung geeignet ist (oder sogar überhaupt mit der Absicht getätigt wurde), Ressentiments und Hetze gegen bestimmte Menschen zu fördern.


Beides trifft auf diverse Karikaturen in "Charlie Hebdo" zu. Die Machart der Zeichnungen unterscheidet sich teilweise kaum von solchen, die in der berüchtigten antisemitischen Hetzschrift "Der Stürmer" publiziert wurden, die Julius Streicher im Deutschland der Nazi-Zeit (bzw. schon zuvor) herausgebracht hat. (Auch Abbildungen aus dem "Stürmer" findet man im Internet.) Damals waren Angriffsziel die Juden, jetzt sind es (primär) die Moslems. (Dass in "Charlie Hebdo" auch andere Religionen bzw. deren Anhänger aggressiv kritisiert bzw. karikiert würden, wird gerne als Entlastung vorgebracht, enthebt die Zeitschrift aber aus verschiedenen Gründen nicht der Verantwortung hinsichtlich ihrer islam- bzw. moslembezogenen Veröffentlichungen.)

Dass eine Zeitschrift wie der "Stürmer" noch immer erscheinen könnte, wäre im heutigen Europa wohl unvorstellbar. (Ganz sicher kann man sich aber nicht einmal dessen sein.) Auch ein großer Teil der "Je suis Charlie"-Rufer wäre vermutlich (und hoffentlich) dagegen. Damit wäre aber interessant zu wissen, wieso diese Leute im einen Fall ("Stürmer") eine Grenze des Akzeptablen hinsichtlich der (zu Recht oder zu Unrecht ins Treffen geführten) Meinungsäußerungsfreiheit vermutlich überschritten sehen, im anderen Fall jedoch nicht; ja wieso sie teilweise sogar ausdrücklich die "volle Solidarität" mit den Publizisten von "Charlie Hebdo" bekunden (so etwa der "Kurier"-Chefredakteur Helmut Brandstätter). 

Aber auch ganz andere Vergleichsbeispiele lassen sich heranziehen: Wäre es legitim, dass die Blattlinie einer Zeitschrift darin bestünde, eine bestimmte Gruppe von (körperlich oder geistig) behinderten Menschen zu karikieren und sich über ihre Gebrechen lustig zu machen? Oder wäre es legitim, in gleicher Weise über alte Menschen oder Obdachlose oder Personen anderer Hautfarbe oder anderer sexueller Orientierung oder was sonst immer herzuziehen? 

Am Stammtisch oder bei vergleichbaren Zusammenkünften mag das alles (leider) tatsächlich passieren. Aber das heißt noch lange nicht, dass man Derartiges als einen Ausdruck des westlichen Wertes "Meinungs­äußerungsfreiheit" heroisieren sollte. Der Pranger des Mittelalters gilt heute allgemein als barbarisch; den Kommentaren am Stammtisch wird mit gutem Grund skeptisch begegnet. "Charlie Hebdo" (und natürlich viele vergleichbare Formen heutiger "Meinungsäußerung") sind nichts Anderes als der Pranger und der Stammtisch in modernem und professionellem publizistischem Gewand – mit dem wesentlichen Unterschied ungleich größerer Reichweite. 

2.
Diese knappen Erörterungen zur Meinungsäußerungsfreiheit und ihren allfälligen Grenzen waren zwar notwendig, um mich nicht dem Vorwurf auszusetzen, dieses Grundrecht zu ignorieren. Allerdings bin ich damit der Journalisten-Lobby und den "Je suis Charlie"-Rufern in gewisser Weise bereits auf den Leim gegangen. Deswegen ist ein zweiter Einwand noch wesentlicher als jener, dass auch Meinungsäußerungsfreiheit (und Pressefreiheit) ihre Grenzen hat bzw. haben sollte:


Vielen von denen, die sich jetzt so inbrünstig auf diese Grundrechte berufen, geht es nämlich in Wahrheit gar nicht darum!

Es geht ihnen schlicht und einfach darum, tun und lassen zu können, was sie wollen. "Ich darf alles" – das ist das oberste Credo des (vermeintlich) aufgeklärten und (vermeintlich) demokratisch gesinnten westlichen Menschen.

Im konkreten Fall bedeutet es: "Ich darf meinen Spaß haben, wann und worüber ich will." Der Spaß wird dabei terminologisch oft zu "Humor" oder "Satire" hochphilosophiert – womit man dann auch Gelegenheit hat, sich ganz ungeniert auf den unvermeidlichen Tucholsky-Ausspruch "Satire darf alles" zu berufen. Und schon kann man seinem eigenen Hochmut, seiner Unverschämtheit, seiner Charakterlosigkeit und seiner Menschenverachtung völlig hemmungslos freien Lauf lassen. Genau das haben die Verantwortlichen von "Charlie Hebdo" ausgiebig praktiziert.

Was für ein erschreckend deutliches Beispiel für "Newspeak" im Sinne von Orwell's "1984": Man sagt hartnäckig "Freiheit der Meinungsäußerung", meint aber ein vermeintliches Recht, beleidigen, verhöhnen und sich dabei auf Kosten der davon Betroffenen amüsieren zu dürfen.

Die Meinungsäußerungsfreiheit könnte darin zum Ausdruck kommen, sich (beispielsweise) gegen den Islam (oder irgendeine andere Religion oder Geisteshaltung) auszusprechen und dies im Idealfall auch sachlich und überzeugend zu begründen. Sie könnte selbstverständlich auch darin bestehen, zwar nicht den Islam insgesamt abzulehnen, wohl aber den Islamismus oder die Verübung von Terroranschlägen unter Berufung auf diese Religion. All das (und noch mehr) muss tatsächlich an Kritik und/oder Ablehnung unter Berufung auf das Recht der freien Meinungsäußerung legitim sein.

Den Karikaturisten von "Charlie Hebdo" ist es aber eindeutig um Anderes gegangen: Sie wollten (mit einem Thema) ihren Spaß haben (bzw. ihren Spaß unter die Leute bringen), sie wollten provozieren, verletzen und Grenzen ausreizen bzw. genauer gesagt: sie wollten unter Beweis stellen, dass es für sie gar keine Grenzen gibt. Das dies alles der Öffentlichkeit (und jetzt sogar einer Millionenschar in aller Welt) als Manifestation einer "Meinungsäußerung" verkauft werden kann, ist absurd, hat aber – jedenfalls posthum – gewirkt.

Und wie es gewirkt hat! Wer derzeit in der "aufgeklärten" und "toleranten" westlichen Gesellschaft nicht unangenehm auffallen will, tut gut daran, "Charlie zu sein". Wer an der Zeitschrift und ihren Machern Anstoß nimmt, oder wer den "Je suis Charlie"-Rummel kritisiert, muss damit rechnen, unverzüglich als intolerant, als Gegner der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit und damit als Feind der Demokratie  abgestempelt zu werden. (Als humorlos gilt man sowieso, wenn man nicht über jede sei es auch noch so dumme Geschmacklosigkeit oder niederträchtige Menschenverachtung lacht.)

Ein schönes Beispiel für diese Situation und gleichzeitig für die totalitäre Gesinnung, die manchen von der Freiheit schwadronierenden Publizisten innewohnt, liefert eine Äußerung des österreichischen Karikaturisten Gerhard Haderer in der Zeitung "Der Standard" vom 8. Jänner 2015. Über das derzeit übliche pathetische und verlogene Geschwätz hinaus ("Es geht um die Freiheit des Wortes, um die Freiheit der Kunst." / "Satire darf alles" usw.), versteigt sich Haderer auch noch zu folgender Forderung: 

"Ich erwarte, dass die Zeichnungen von 'Charlie Hebdo' auf den Titelseiten der Zeitungen auftauchen. Wir müssen aktiv sein und selbstbewusst sein und sagen: Wir haben eine Kultur, und diese Kultur ist zu verteidigen."
(Quelle: http://derstandard.at/2000010133498 [aufgerufen am 13.1.2015]) 


Manche Publizisten werfen also sogar die von ihnen sonst permanent beschworene Freiheit der Medien ungeniert über den Haufen, wenn sie ihre Ideologie durchsetzen wollen: Die Titelseiten der Zeitungen sollen das bringen, was etwa einem Haderer genehm ist. Und letztklassige Karikaturen werden dabei zum Ausdruck einer "Kultur" erklärt, die nun im Kollektiv "zu verteidigen" sei!

Eine Geiselhaft durch "Charlie Hebdo" und die Sympathisanten der Zeitschrift.