Dienstag, 31. März 2015

Medien ohne Zivilcourage

In der heutigen Ausgabe des "Kurier" (31. März 2015) äußert sich dessen Herausgeber und Chefredakteur Helmut Brandstätter ausführlicher zum Umgang seiner Zeitung mit Name und Foto des Co-Piloten, der vor einer Woche vermutlich das Flugzeugunglück in den französischen Alpen verur­sacht hat.

Brandstätter bringt in seinem Leitartikel mit dem Titel "Fakten suchen – das bleibt unsere Aufgabe" allerdings nichts vor, was meine kürzlich in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik an den Medien entkräften würde (siehe meinen Blog-Eintrag vom 27. März).

Dabei war ich zu Beginn der Lektüre seines Kommentars sogar noch geneigt, Brandstätter wenigstens das Bemühen um eine redliche Ausein­andersetzung mit dem Thema nicht abzusprechen. Aber auch das hat sich gewandelt, je mehr ich von seinem Text gelesen habe.

Hier einige wesentliche Einwände zu Brandstätters Darstellung.

Zum Verhalten des "Kurier" schreibt er zunächst:

"Der Staatsanwalt buchstabierte [in der Pressekonferenz] den Namen [des Co-Piloten] – also haben auch wir ihn online gestellt. Fotos kursierten, auch wir brachten sie. Erste Berichte aus der Heimat des Co-Piloten wurden publiziert – wir zitierten."

Mit anderen Worten: Wir haben mit der Meute gekläfft. Das Verhalten Dritter ersparte eigenes Denken und die Wahrnehmung eigener Verantwor­tung. Also klassisches Mitläufer- und Mittätertum.

Allerdings formuliert Brandstätter unmittelbar darauf sanfte Bedenken:

"Haben wir alles richtig gemacht? Darüber wird in der Redaktion seit Tagen diskutiert, […]"

Das könnte der erste Ansatz eines (wenn auch reichlich verspäteten) Bedauerns über eigenes mediales Fehlverhalten sein; ist es aber leider nicht.

Was folgt, das sind zunächst die professionellen Floskeln, die allerorten (natürlich nicht nur von Medien) immer dann verwendet werden, wenn etwas schief gelaufen ist, ohne dass sich dies verbergen oder leugnen lässt: a) Jeder macht Fehler. b) Heutzutage ist alles so schwierig. c) Wir lernen aus unseren Fehlern.

Bei Brandstätter klingt das folgendermaßen:

"Niemand arbeitet fehlerlos. […] Gerade Journalisten lernen ständig dazu, weil es zwar Grundsätze, aber nicht für jedes Ereignis einen genauen Verhaltenskodex gibt. Im Zeitalter des Internets und der Online-Blogs ist der Zeitdruck noch viel größer als früher."

Und unmittelbar danach:

"Also schrieben wir den Namen des Co-Piloten sofort auf kurier.at. Richtig? Im Rückblick eher nicht, da andere Personen denselben Namen tragen und Verwandte zu schützen sind. Als Konsequenz einer Diskussion in der Redaktion kürzten wir den Namen später ab, auch in der gedruckten Zeitung."
 

Allein, dass über eine solche (moralische) Selbstverständlichkeit wie das (nachträgliche!) Unterlassen der Nennung des Familiennamens eine redak­tionelle Diskussion vonnöten war, bezeugt die Verlotterung der Boulevard-Medien. Aber auch sonst überzeugt Brandstätters Erklärungsversuch nicht:

Das Ereignis in Frankreich mag zwar in der Tat sehr ungewöhnlich gewesen sein. Aber für Journalist/innen mit Anstand würde (und dürfte) sich daraus – dennoch – nicht das geringste Problem hinsichtlich der Berichterstattung und ihrer Grenzen ergeben. Die Sache wäre nämlich sehr einfach: Informiert wird über das Geschehene, aber persönliche Details über den (mutmaß­lichen) Täter/Verursacher – also insbesondere Name, Wohn- bzw. Her­kunfts­ort und Fotos von ihm – sind ein striktes Tabu. Das ist keine Frage des konkreten Ereignisses, auch keine der Existenz eines "genauen Verhal­tenskodex" und ebenso wenig eine des ständigen "Dazulernens". Es ist eine simple Frage des Anstands, der Moral.

Und was kann man von dem Argument halten, dass "(i)m Zeitalter des Internets und der Online-Blogs (…) der Zeitdruck noch viel größer als früher (ist)"? Überhaupt nichts. Erstens sind die Medienmacher Profis, die auch von anderen Menschen ständig sogenannte "Professionalität" und Anpassung an geänderte Bedingungen fordern. Da wirkt es nur selbstmit­leidig, wenn sie darüber klagen, wie schwierig doch die Verhältnisse für die eigene Berufsausübung seien.

Ein zweiter Punkt ist jedoch viel wesentlicher:

Wir wollen den armen Journalist/innen zugestehen, dass durch Zeitdruck und die Existenz so vieler anderer Informationsquellen hin und wieder ein Recherchefehler unterläuft und aufgrund dessen Mängel in der Bericht­erstattung auftreten können. Aber was hat all das mit dem Ausschreiben oder Abkürzen (oder Nicht-Erwähnen) eines Namens zu tun? Ein simples "Suchen-Ersetzen" mit einem beliebigen Textverarbeitungsprogramm wür­de sicherstellen, dass binnen Sekunden ein allenfalls unerwünschter Name aus dem Text entfernt ist. In Wahrheit ist das Argument mit dem Zeitdruck also eine völlig untaugliche Ausrede – es ging (und geht) allein darum, ob man den Namen bewusst ausschreiben wollte (bzw. ob man an dieses so sensible Thema zunächst überhaupt einen Gedanken ver­schwen­det hat). Wäre es anders, hätte darüber später auch keine redaktionelle Diskussion stattzufinden brauchen.

So viel zur Namensnennung. Noch schlimmer kommt es mit Brandstätters Erklärungen zur Veröffentlichung des Fotos des Co-Piloten (siehe dazu auch die Abbildung in meinem zuvor erwähnten Blog-Artikel vom 27. März). Er meint:

"Wir sind auch heute noch der Meinung dass es richtig war, das Foto zu zeigen. Bei einer derartigen Katastrophe haben die Leser ein Recht auf umfassende Information, und dazu gehörten auch persönliche Details, von Fotos bis zur Krankengeschichte des Mannes."

Es sind Aussagen wie diese, die die Machtstellung, die Anmaßung und die Gefährlichkeit der "freien Medien" auf erschreckende Weise dokumentieren. (An anderer Stelle derselben Ausgabe des "Kurier" gibt es ein weiteres [wenn­gleich nicht ihm anzulastendes] Beispiel dafür; die Wortwahl ist noch unverblümter als bei Brandstätter. Die Chefredakteurin der deutschen "Bild am Sonntag", Marion Horn, wird mit folgender Feststellung zitiert: "Wir ent­scheiden selbst, wie wir unsere Zeitung machen. Weil wir es können.")

Brandstätter (und seinesgleichen) verwandeln eine moralisch fragwürdige (bzw. für mich eindeutig verwerfliche) Vorgangsweise (die – basierend auf einem völlig verfehlten Verständnis von Presse- und Meinungs­äußerungs­freiheit – durch das Medienrecht und die zugehörige Judikatur juristisch leider gedeckt zu sein scheint) in eine Tugend: nämlich in einen notwendigen Dienst an den Leser/innen, die ein "Recht auf umfassende Information" hätten. Und Brandstätter dekretiert, dass "dazu (…) auch persönliche Details (gehörten)".

Dem ist Folgendes zu entgegnen:

• Es geht in Wahrheit selbstverständlich nicht um die Vermittlung von "Information", sondern um die Befriedigung von Sensationsgeilheit und Voyeurismus des Massenpublikums (siehe dazu schon näher meinen letzten Blogeintrag zum Thema, wo ich nicht umsonst einen Vergleich zum sogenannten Elefantenmenschen als Jahrmarktsattraktion früherer Zeiten gezogen habe). Spiegelbildlich geht es aus der Sicht der Medien um Auflagenzahlen, Quoten oder Seitenaufrufe im Internet. Um sonst gar nichts.

• Wer sich über das Gesicht (bzw. den Namen) des Co-Piloten "informieren" wollte, wurde dazu (leider) auch in vielen anderen Zeitungen oder durch Suche im Internet mühelos fündig. Keine Zeitung (und kein sonstiges Medium) hätte sich also den "Vorwurf" machen müssen, dem eigenen Publikum diese wichtige "Information" vorenthalten zu haben, wenn die entsprechende Veröffentlichung unterblieben wäre
– ebenso wenig, wie sich ein Wirt an seinen (potentiellen) Lokalbesuchern versündigt, wenn er keine Nudelsuppe auf der Speisekarte hat; oder ein Textilhändler an seinen Kunden, weil er keine karierten Hemden oder gelben Socken führt. Soll heißen: Kein Unternehmer ist verpflichtet, eine bestimmte Ware anzubieten – schon gar nicht, wenn die (ethisch berechtigte oder unberechtigte) Nach­frage sowieso von genügend Konkurrenten befriedigt werden kann. Wieso wird das von (dem sonst so wirtschaftsorientierten) Dr. Brandstätter im Fall der Medien anders gesehen? Nämlich so, als ob es sich bei der Ver­öffentlichung eines Fotos bzw. anderer persönlicher Details (auch) in seiner Zeitung um so etwas wie die Erfüllung einer unverzichtbaren Mission im Interesse der Informationsversorgung der Leser/innen handeln würde. – Dabei ist die Sache ganz simpel: Wer Nudelsuppe will, wird eben zum nächsten Gasthaus ziehen; und wer unbedingt wissen möchte, wie der Co-Pilot ausgesehen hat (oder mit vollem Namen heißt), der wird sich die Information aus einem anderen Medium besorgen. Genau das soll aber aus Sicht des jeweiligen Medienunternehmens verhindert werden. Und damit schließt sich der Kreis zum oben Erwähnten: Es geht in Wahrheit natürlich nur um Verkaufszahlen und um die Verhinderung von Kundenabwanderung.

Nun kann man ein solches Bestreben zwar als natürliches und legitimes unternehmerisches Ziel ansehen. Aber dann sollte all das schönfärberische und verlogene Gerede über das große Verantwortungsbewusstsein der Medien und ihre wichtige Rolle in der Demokratie unterbleiben. Denn wenn ein Gastwirt eine Suppe ins Angebot nimmt, um nur ja keine Kunden zu verlieren, ist das harmlos. Wenn jedoch eine Zeitung (oder ein anderes Medium) aus demselben Motiv wie der Wirt jeden grundlegenden Anstand über den Haufen wirft (und das dann auch noch als Erfüllung einer Informationsaufgabe glorifiziert), dann ist das genau das Gegenteil von harmlos.

Die medialen Vorkommnisse der letzten Tage haben mich im Übrigen an einen alten Pazifistenspruch erinnert: "Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin." Das könnte man abwandeln: "Stell dir vor, es wäre Gelegenheit für mediale Schweinereien, aber kein Medium macht mit." Doch soweit mir bekannt, hatte kein einziges Boulevard-Medium den Mut zu entscheiden: "Wir veröffentlichen kein Foto des Co-Piloten, und wir nennen weder seinen Namen noch sonstige persönliche Details." (Das höchste der Gefühle waren in manchen Medien halbherzige Schritte wie abgekürzter Name und/oder verpixelte Fotos.)

Mit anderen Worten: eine Horde von feigen Mitmachern.

Der Historiker Oliver Rathkolb meinte am 30. März – also nur einen Tag vor Brandstätters Leitartikel – in einem Kurier-Interview (in völlig anderem Zusammenhang):

"Man kritisiert den Staat und die Parteien. Zivilcourage muss man aber suchen."

Auf diese Aussage nahm Brandstätter in seinem Leitartikel vom gleichen Tag sogar selbst Bezug (nämlich hinsichtlich des Überlaufens eines Wiener Landtagsabgeordneten der Grünen zur SPÖ). Also wieder einmal die übliche Untugend des Boulevard-Journalismus: bei Anderen solche Qualitä­ten einzumahnen, über die man selbst nicht verfügt.

Denn Brandstätter muss sich (stellvertretend für viele andere Medienleute) schon auch fragen lassen: Wo bleibt eine Art Zivilcourage der Medien? Wo bleibt der "Mut", auch dann zu etwas Nein zu sagen, wenn es "alle Anderen" tun?

Dass man bei Brandstätter (und seinesgleichen) mit solchen Fragen an der falschen Adresse ist, wird aber spätestens mit dem Schluss seines heutigen Leitartikels klar. Zunächst präsentiert er wieder (wie schon am 27. März) sein lächerliches Scheinargument, dass es darum gehe, durch die Ver­mitt­lung von Information die Bildung von Verschwörungstheorien zu verhin­dern. Wörtlich schreibt er:

"Was ist die Alternative zu Information? Die Spekulation, die schnell zur Verschwörung wird, und die verbreitet sich im Internet besonders schnell."

Dann kommt er auf Jörg Haiders Unfalltod zu sprechen und meint, dass ein deutscher Verlag diesbezüglich Verschwörungstheorien publiziert habe, "dabei aber kein Wort über Alkohol und Geschwindigkeit [Anm.: als Ursa­che für Haiders Autounfall] verlor".

Und das soll auch nur den geringsten Begründungswert dafür haben, Name und/oder Foto des (zuvor der Öffentlichkeit völlig unbekannten) Co-Piloten zu publizieren?? Wie schon neulich von mir im Blog erwähnt: Auch im Zusammenhang mit (allfälligen) Verschwörungstheorien haben Informationen der Öffentlichkeit über Ursache und Ablauf des Flugzeugunglücks eine komplett andere Funktion als die (diesbezüglich völlig irrelevante) Preisgabe persönlicher Details des Co-Piloten (wie Foto, Name etc.; Veröffentli­chun­gen über seine Krankengeschichte sind ein Problem für sich, das gesondert zu erörtern wäre).

Brandstätter schreibt sogar plakativ "Verschwörung – nicht unser Ge­schäfts­modell" und versucht auf diese Weise, seine Leser/innen auf ein völlig falsches Gleis zu führen. Er macht in gewisser Hinsicht sogar genau das, was er (vorgeblich) kritisiert: Er will Verschwörungstheorien verhindert wissen, konstruiert dabei aber paradoxerweise selbst eine: nämlich jene, dass die Nicht-Veröffentlichung bestimmter "Informationen" in den Medien umgehend von bösen Mächten – etwa in Gestalt "windige(r) Verlage" – ausgenützt werden würde, um Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen.

Also gleichsam eine Brandstätter'sche Verschwörungstheorie über die Entste­hung von Verschwörungstheorien. Man kann es aber natürlich auch weniger spitzfindig sehen: Brandstätter behauptet etwas ohne den Funken einer sachlichen Grundlage.

Und selbst wenn er mit seiner konstruierten Furcht vor Verschwö­rungs­theorien Recht hätte: Man könnte ja abwarten, ob sie entstehen und welchen konkreten Inhalt sie haben, anstatt schon vorweg durch Preisgabe aller möglichen persönlichen Details die Privatsphäre von Menschen zu verletzen bzw. zu zerstören.

Ganz am Ende seines Leitartikels wird Brandstätter pathetisch und selbst­gefällig:

"Wir können gerade unter der Bedrohung des Sekundenjournalismus nur mit ehrlicher Suche nach der Wahrheit überleben. Das wird Fehler nicht verhindern, aber mit jedem Fehler und jeder Kritik lernen wir. Offen und ehrlich."
 

Erstens geht es im gegebenen Zusammenhang gar nicht um Wahrheit und die "ehrliche Suche" nach ihr. Thema ist vielmehr Folgendes: Ist es legitim, diese Wahrheit ohne Rücksicht auf die Privatsphäre und/oder die Gefühle von Menschen (zB. von Hinterbliebenen oder Opfern) unter dem Vorwand eines (vorhandenen oder von den Medien erst ausgelösten?) "Informations­bedürfnisses" der Öffentlichkeit an letztere preiszugeben?

Zweitens lernt Brandstätter und mit ihm der "Kurier" aus Fehlern und Kritik eben gerade nicht. Das zeigt schon allein seine Aussage: "Wir sind auch heute noch der Meinung, dass es richtig war, das Foto zu zeigen."