Dienstag, 5. Januar 2016

Verkehrsampeln - und ihre Folgen

Diesen Blog-Artikel beginne ich ganz bewusst mit demselben Satz wie den vorangegangenen:

Was unsere Zeit und unsere Gesellschaft in erschreckender Weise prägt, das ist ein schamloser Missbrauch bzw. eine skrupellose Verdrehung und Entstellung des Begriffs "Freiheit".

Im vorigen Blog-Eintrag (siehe hier)  ging es dabei um ein Interview mit dem Gastronomen Toni Mörwald im "Kurier". Jetzt soll gezeigt werden, wie die Zeitung selbst Mörwalds Freiheitsidee bereitwillig übernimmt, propagiert und sie in eine geradezu groteske Richtung fortspinnt.

Auf Seite 7 des "Kurier" vom 2. Jänner 2016 gibt es besagtes Interview mit Mörwald. Die Kurier-eigene Unterstützung liefert Guido Tartarotti in der Kolumne auf Seite 1 derselben Ausgabe – unter der Überschrift  "So weit kommt's noch!"

Tartarotti zitiert darin zunächst Mörwalds Feststellungen, wonach die "Vielzahl an Einschränkungen (…) die Menschen müde" mache, "ihnen den Spaß und die Freiheit" nehme und "die Hälfte der Gesetze und Vorschriften (…) in den Mistkübel" gehöre.

Warum von diesen Ansichten nichts zu halten ist, steht in meinem vorigen Blog-Eintrag; aber für freiheitsliebende Journalisten wie Tartarotti sind sie natürlich ein Hochgenuss.

Anerkennend meint er daher: 

"Der Mann traut sich was."

In Wahrheit traut sich Mörwald mit seinen Sprüchen natürlich überhaupt nichts. Denn er macht nur das, was in unserer Gesellschaft und in den Boulevardmedien ohnedies gleichsam zum guten Ton gehört: über den Staat herzuziehen und die vermeintlich durch ebendiesen bewirkte eigene Unfreiheit zu bejammern.

Nicht derjenige traut sich etwas, der solche tagaus tagein verbreiteten Stehsätze von sich gibt (schon gar nicht, wenn er Unternehmer ist). Mut beweisen vielmehr jene wenigen (viel zu wenigen), die an solchen neoliberalen Propagandasprüchen Kritik üben. Gegen den Strom zu schwimmen erfordert Mut – aber sicher nicht das Heulen mit den Wölfen.

Tartarotti kümmert so etwas natürlich nicht. Vielmehr nimmt er Mörwalds Polemik zum Anlass, um (wieder einmal) seine eigenen Vorstellungen von Freiheit zu präsentieren. Und dabei wird es (wie oben erwähnt) grotesk:

Tartarotti hält allen Ernstes die Existenz von Verkehrsampeln für eine (staatlich verordnete) Einschränkung der Freiheit! Man kann es kaum glauben, man hält das für einen Scherz oder eine Fehlinterpretation seiner Aussagen – aber es ist absurde Realität!

Um dies nachzuvollziehen, lohnt sich zunächst ein Blick auf einen früheren Kolumnentext Tartarottis: Im Kurier vom 5. August 2014 ging es unter anderem darum, dass vor 100 Jahren in den USA die erste elektrische Verkehrsampel installiert worden war. Dieses Jubiläum war für Tartarotti der Anlass, ernstlich Folgendes zu behaupten:

"Die Ampel sorgte einerseits für mehr Sicherheit im öffentlichen Leben, andererseits war sie ein erster Schritt zur Entmündigung: Heute sind wir es gewohnt, im öffentlichen Raum Eigenverantwortung an Ge- und Ver­bots­schilder, Warnhinweise und Lichtsignale zu delegieren."


Die Verkehrsampel als "ein erster Schritt zur Entmündigung". Was muss im Kopf eines Menschen vorgehen, damit er auf einen solch absurden Gedanken kommt? Eine technische Einrichtung, die ausschließlich dazu dient, für einen geordneten und damit sicheren Ablauf des Zusammentreffens vieler Menschen und Fahrzeuge zu sorgen, soll der Ausgangspunkt für eine Entmündigung sein?? (Im Übrigen würde die "Entmündigung" – sofern man Tartarottis haarsträubenden Überlegungen folgen wollte – historisch betrachtet schon vor der Ampel einsetzen: bei der Tätigkeit eines jeden Verkehrspolizisten an der Straßenkreuzung. Durch die Installation von Ampeln wurde dessen Arbeit lediglich automatisiert.)

Verkehrsampeln sorgen (wie sogar Tartarotti einsieht) für mehr Sicherheit im öffentlichen Leben. Und zwar ohne ein relativierendes "einerseits – andererseits", wie er uns weiszumachen versucht. Wenn sich Tartarotti durch Rotlicht "entmündigt" fühlt, sollte er sich entweder in eine einsame Waldhütte zurückziehen (dort bedarf es tatsächlich keiner Verkehrsampel) oder einmal versuchen, eine stark befahrene Straße abseits einer (durch Ampel oder Polizisten geregelten) Kreuzung zu überqueren. Er wird es voraussichtlich nicht schaffen – es sei denn, ein gnädiger Autofahrer erbarmt sich seiner, hält an und lässt ihn passieren. Damit wären wir aber genau bei jener Situation angelangt, die immer eintritt, wenn die Freiheitsfetischisten das Sagen haben:

An die Stelle von Regeln (die für alle gleichermaßen gelten und insbesondere auch die Schwächeren schützen) tritt eine Art Gnadenakt des Stärkeren: Kommt ein "rücksichtsvoller" (de facto heißt das: mitleidiger) Autolenker gefahren, hat der Fußgänger Glück und darf die Straße überqueren. Andernfalls kann er ewig am Fahrbahnrand warten (oder er muss unter Lebensgefahr versuchen, rechtzeitig vor dem nächsten Fahrzeug über die Straße zu hetzen). Dass auch (und gerade) eine solche Situation eine Form der Entmündigung von Menschen ist (und zwar diesfalls immer einseitig eine Entmündigung der Schwächeren) – das kapieren Leute wie Tartarotti nicht (oder es ist ihnen egal): Auf den guten Willen des Stärkeren (Reicheren / Mächtigeren) angewiesen zu sein – das ist wahre Entmündi­gung (und Demütigung). Und der tiefere Wert von offiziellen Verbots- und Gebotsnormen liegt vor allem auch darin, diese Form von Entmündigung zu verhindern. Das gilt für die Verkehrsampeln (oder auch nur einen simplen Zebrastreifen) an der Straßenkreuzung ebenso wie für Arbeitszeitgesetze, die "tüchtige" Unternehmer wie Toni Mörwald daran hindern sollen, Lehrlinge 12 oder 15 Stunden schuften zu lassen (siehe auch dazu den vorigen Blogeintrag).

Damit ist auch schon die gängige missbräuchliche Verwendung des Ausdrucks "Eigenverantwortung" entlarvt, wie sie etwa durch Tartarotti im oben angeführten Zitat erfolgt: Worin kann die "Eigenverantwortung" eines Fußgängers bestehen, der ohne Existenz einer Verkehrsampel (bzw. sonstiger Formen der Verkehrsregelung) über die stark befahrene Straße kommen soll? "Mutig" zu sein und schnell genug über die Straße zu laufen, um nicht vom nächsten Auto überfahren zu werden? Und wie hätten dann ältere oder gebrechliche Personen ihre "Eigenverantwortung" wahrzu­neh­men? Indem sie alle Straßen meiden, für deren Überquerung sie nicht fit genug sind? Oder wie kann ein Lehrling "Eigenverantwortung" wahrnehmen, wenn ihn der Chef gnadenlos ausnützt, aber der Lehrling auf den Job angewiesen ist?

Es ist also durch und durch zynisch, wenn heutzutage immer wieder der Begriff "Eigenverantwortung" bzw. "Selbstverantwortung" ins Treffen geführt wird. Gemeint ist damit lediglich: "Schau selbst, wie du zurande kommst. Wenn du es nicht schaffst, hast du Pech gehabt." Beziehungsweise in der abgemilderten, aber naiven und für die Betroffenen erst recht entwürdigenden Version: "Vertrau auf die Großzügigkeit des Stärkeren" (also des Autofahrers, der dich über die Straße lässt, obwohl er dazu nicht verpflichtet ist; des Chefs, der es dir erlaubt, nach 10 Stunden Feierabend zu machen, obwohl er deine Dienste auch 12 oder mehr Stunden in Anspruch nehmen dürfte usw. usw.). Es ist eine zutiefst unmenschliche Haltung, die hinter dem permanenten Newspeak-Geschwätz von Eigen- bzw. Selbstverantwortung steckt.

In der Kolumne vom 2. Jänner 2016 kommt Tartarotti neuerlich auf die Verkehrsampeln zu sprechen. Mörwald – dem Mann, der sich was traut – stellt er unvermittelt den angeblich obrigkeitshörigen Durchschnitts­öster­reicher gegenüber: "Wir" seien nämlich das Land,
  
"wo es als bürgerliche Tugend gilt, um drei in der Früh in menschenleerer Einöde vier Minuten lang vor einer roten Fußgängerampel zu warten, obwohl das nächste Auto erst in drei Tagen kommen wird."

Völlig abwegig – wie alles an Tartarottis Ausführungen – ist natürlich auch dieses Beispiel und erst recht die Behauptung, dass es sich dabei um eine  allgemein verbreitete Verhaltensweise ("bürgerliche Tugend") handle. Weitaus realistischer ist das, was ich tagsüber regelmäßig beobachten kann: Passanten, die trotz herannahender Autos wie von Sinnen bei Rot über die Kreuzung stürmen, weil sich auf der anderen Straßenseite der Linienbus in der Haltestelle zur Abfahrt bereit macht. Solche Szenen kann man auch durchaus mit Personen erleben, die ein oder zwei kleine Kinder dabei haben, die sie auf ihrem Amoklauf über den Asphalt hinter sich herziehen.

Hier ist es die egoistische (und gleichzeitig hinsichtlich der Gefahren gedankenlose) Mentalität "Ich muss alles haben, und es muss gleich sein", die das Verhalten der Menschen prägt. In spätestens 10 Minuten käme der nächste Bus. Aber warten, sich Zeit nehmen, "Verzicht" üben (sei es auch nur im Interesse der eigenen Sicherheit oder der Vorbildwirkung für Kinder) – das ist in unserer Gesellschaft für viele Menschen nicht mehr akzeptabel. Darin (und sicher nicht in einer übertriebenen Gesetzestreue) ist eine moderne "bürgerliche Tugend" (= Untugend) zu erblicken!

Weiter schreibt Tartarotti:

"Wir sind auch das Land, in dem es wohlige Gefühle des Behütetseins verleiht, dass dort überhaupt eine Ampel steht oder auch ein Kreisverkehr."

Da wären sie also wieder in Tartarottis journalistischen Meisterstücken: die Ampeln, samt dazugehöriger Polemik gegen sie (und gegen Kreisverkehre auch gleich).

Wie bescheuert muss jemand sein, um an Einrichtungen Anstoß zu nehmen, die einzig und allein einem Zweck dienen: den Verkehr sicherer zu machen und damit insbesondere Leben und körperliche Unversehrtheit von Menschen zu schützen; und gleichzeitig auch noch über jene Menschen zu spötteln, denen eine solche Einrichtung ein Sicherheitsgefühl gibt!

Am Schluss seines Artikels kommt Tartarotti gänzlich ins Psychologisieren – oder besser gesagt ins Phantasieren. Er meint nämlich:

"Dabei geht es weniger um Sicherheit, als um ein Ritual: Der Staat zeigt, dass er sich um uns kümmert, und wir zeigen, dass wir uns diesem Kümmern fügen. Wer den Sinn solcher nahezu religiöser Demutsgesten hinterfragt, begeht eine Respektlosigkeit gegenüber Obrigkeit und Gemeinwesen.

Freiheit? So weit kommt's noch!"

Diese irrwitzigen Schlussfolgerungen leitet Tartarotti wohlgemerkt aus seiner an den Haaren herbeigezogenen Anekdote über die Passanten ab, die angeblich um drei Uhr Früh bei Rot an der leeren Kreuzung warten!

Was Verkehrsampeln doch alles anrichten können – nicht an Kreuzungen, aber fernab von diesen in manchen Gehirnen.