Diesen
Blog-Artikel beginne ich ganz bewusst mit demselben Satz wie den vorangegangenen:
Was unsere
Zeit und unsere Gesellschaft in erschreckender Weise prägt, das ist ein
schamloser Missbrauch bzw. eine skrupellose Verdrehung und Entstellung des
Begriffs "Freiheit".
Im vorigen
Blog-Eintrag (siehe hier) ging es dabei um ein Interview mit dem Gastronomen Toni Mörwald im
"Kurier". Jetzt soll gezeigt werden, wie die Zeitung selbst Mörwalds Freiheitsidee
bereitwillig übernimmt, propagiert und sie in eine geradezu groteske Richtung fortspinnt.
Auf Seite 7
des "Kurier" vom 2. Jänner 2016 gibt es besagtes Interview mit
Mörwald. Die Kurier-eigene Unterstützung liefert Guido Tartarotti in der Kolumne
auf Seite 1 derselben Ausgabe – unter der Überschrift "So weit kommt's noch!"
Tartarotti
zitiert darin zunächst Mörwalds Feststellungen, wonach die "Vielzahl an
Einschränkungen (…) die Menschen müde" mache, "ihnen den Spaß und die
Freiheit" nehme und "die Hälfte der Gesetze und Vorschriften (…) in
den Mistkübel" gehöre.
Warum von
diesen Ansichten nichts zu halten ist, steht in meinem vorigen Blog-Eintrag; aber für
freiheitsliebende Journalisten wie Tartarotti sind sie natürlich ein
Hochgenuss.
Anerkennend
meint er daher:
"Der Mann traut sich was."
In Wahrheit
traut sich Mörwald mit seinen Sprüchen natürlich überhaupt nichts. Denn er
macht nur das, was in unserer Gesellschaft und in den Boulevardmedien ohnedies gleichsam
zum guten Ton gehört: über den Staat herzuziehen und die vermeintlich durch ebendiesen
bewirkte eigene Unfreiheit zu bejammern.
Nicht derjenige traut sich etwas, der solche tagaus tagein verbreiteten Stehsätze von sich gibt (schon gar nicht, wenn er Unternehmer ist). Mut beweisen vielmehr jene
wenigen (viel zu wenigen), die an solchen neoliberalen Propagandasprüchen
Kritik üben. Gegen den Strom zu schwimmen erfordert Mut – aber sicher nicht das
Heulen mit den Wölfen.
Tartarotti
kümmert so etwas natürlich nicht. Vielmehr nimmt er Mörwalds Polemik zum
Anlass, um (wieder einmal) seine eigenen Vorstellungen von Freiheit zu
präsentieren. Und dabei wird es (wie oben erwähnt) grotesk:
Tartarotti
hält allen Ernstes die Existenz von Verkehrsampeln für eine (staatlich
verordnete) Einschränkung der Freiheit! Man kann es kaum glauben, man hält das
für einen Scherz oder eine Fehlinterpretation seiner Aussagen – aber es ist
absurde Realität!
Um dies
nachzuvollziehen, lohnt sich zunächst ein Blick auf einen früheren Kolumnentext
Tartarottis: Im Kurier vom 5. August 2014 ging es unter anderem darum, dass vor
100 Jahren in den USA die erste elektrische Verkehrsampel installiert worden
war. Dieses Jubiläum war für Tartarotti der Anlass, ernstlich Folgendes zu
behaupten:
"Die Ampel sorgte einerseits für mehr Sicherheit im
öffentlichen Leben, andererseits war sie ein erster Schritt zur Entmündigung:
Heute sind wir es gewohnt, im öffentlichen Raum Eigenverantwortung an Ge- und
Verbotsschilder, Warnhinweise und Lichtsignale zu delegieren."
(Hier im Original nachzulesen: http://kurier.at/meinung/kolumnen/ohrwaschl/ohrwaschl-100-jahre-rot-gruen/78.483.743
)
Die Verkehrsampel als "ein erster Schritt zur
Entmündigung". Was muss im Kopf eines Menschen vorgehen, damit er auf
einen solch absurden Gedanken kommt? Eine technische Einrichtung, die
ausschließlich dazu dient, für einen geordneten und damit sicheren Ablauf des
Zusammentreffens vieler Menschen und Fahrzeuge zu sorgen, soll der Ausgangspunkt
für eine Entmündigung sein?? (Im Übrigen würde die "Entmündigung" –
sofern man Tartarottis haarsträubenden Überlegungen folgen wollte – historisch
betrachtet schon vor der Ampel einsetzen: bei der Tätigkeit eines jeden
Verkehrspolizisten an der Straßenkreuzung. Durch die Installation von Ampeln
wurde dessen Arbeit lediglich automatisiert.)
Verkehrsampeln
sorgen (wie sogar Tartarotti einsieht) für mehr Sicherheit im öffentlichen
Leben. Und zwar ohne ein relativierendes "einerseits – andererseits",
wie er uns weiszumachen versucht. Wenn sich Tartarotti durch Rotlicht
"entmündigt" fühlt, sollte er sich entweder in eine einsame Waldhütte
zurückziehen (dort bedarf es tatsächlich keiner Verkehrsampel) oder einmal
versuchen, eine stark befahrene Straße abseits einer (durch Ampel oder Polizisten
geregelten) Kreuzung zu überqueren. Er wird es voraussichtlich nicht schaffen –
es sei denn, ein gnädiger Autofahrer erbarmt sich seiner, hält an und lässt ihn
passieren. Damit wären wir aber genau bei jener Situation angelangt, die immer
eintritt, wenn die Freiheitsfetischisten das Sagen haben:
An die Stelle
von Regeln (die für alle gleichermaßen gelten und insbesondere auch die
Schwächeren schützen) tritt eine Art Gnadenakt des Stärkeren: Kommt ein
"rücksichtsvoller" (de facto heißt das: mitleidiger) Autolenker
gefahren, hat der Fußgänger Glück und darf die Straße überqueren. Andernfalls
kann er ewig am Fahrbahnrand warten (oder er muss unter Lebensgefahr versuchen,
rechtzeitig vor dem nächsten Fahrzeug über die Straße zu hetzen). Dass auch
(und gerade) eine solche Situation eine Form der Entmündigung von Menschen ist
(und zwar diesfalls immer einseitig eine Entmündigung der Schwächeren) – das
kapieren Leute wie Tartarotti nicht (oder es ist ihnen egal): Auf den guten
Willen des Stärkeren (Reicheren / Mächtigeren) angewiesen zu sein – das ist
wahre Entmündigung (und Demütigung). Und der tiefere Wert von offiziellen Verbots- und
Gebotsnormen liegt vor allem auch darin, diese Form von Entmündigung zu
verhindern. Das gilt für die Verkehrsampeln (oder auch nur einen simplen
Zebrastreifen) an der Straßenkreuzung ebenso wie für Arbeitszeitgesetze, die
"tüchtige" Unternehmer wie Toni Mörwald daran hindern sollen,
Lehrlinge 12 oder 15 Stunden schuften zu lassen (siehe auch dazu den vorigen Blogeintrag).
Damit ist
auch schon die gängige missbräuchliche Verwendung des Ausdrucks
"Eigenverantwortung" entlarvt, wie sie etwa durch Tartarotti im oben
angeführten Zitat erfolgt: Worin kann die "Eigenverantwortung" eines
Fußgängers bestehen, der ohne Existenz einer Verkehrsampel (bzw. sonstiger
Formen der Verkehrsregelung) über die stark befahrene Straße kommen soll?
"Mutig" zu sein und schnell genug über die Straße zu laufen, um nicht
vom nächsten Auto überfahren zu werden? Und wie hätten dann ältere oder
gebrechliche Personen ihre "Eigenverantwortung" wahrzunehmen? Indem
sie alle Straßen meiden, für deren Überquerung sie nicht fit genug sind? Oder wie
kann ein Lehrling "Eigenverantwortung" wahrnehmen, wenn ihn der Chef
gnadenlos ausnützt, aber der Lehrling auf den Job angewiesen ist?
Es ist also
durch und durch zynisch, wenn heutzutage immer wieder der Begriff "Eigenverantwortung"
bzw. "Selbstverantwortung" ins Treffen geführt wird. Gemeint ist
damit lediglich: "Schau selbst, wie du zurande kommst. Wenn du es nicht
schaffst, hast du Pech gehabt." Beziehungsweise in der abgemilderten, aber naiven und
für die Betroffenen erst recht entwürdigenden Version: "Vertrau auf die
Großzügigkeit des Stärkeren" (also des Autofahrers, der dich über die
Straße lässt, obwohl er dazu nicht verpflichtet ist; des Chefs, der es dir
erlaubt, nach 10 Stunden Feierabend zu machen, obwohl er deine Dienste auch 12
oder mehr Stunden in Anspruch nehmen dürfte usw. usw.). Es ist eine zutiefst
unmenschliche Haltung, die hinter dem permanenten Newspeak-Geschwätz von
Eigen- bzw. Selbstverantwortung steckt.
In der
Kolumne vom 2. Jänner 2016 kommt Tartarotti neuerlich auf die Verkehrsampeln zu
sprechen. Mörwald – dem Mann, der sich was traut – stellt er unvermittelt den
angeblich obrigkeitshörigen Durchschnittsösterreicher gegenüber:
"Wir" seien nämlich das Land,
"wo es
als bürgerliche Tugend gilt, um drei in der Früh in menschenleerer Einöde vier
Minuten lang vor einer roten Fußgängerampel zu warten, obwohl das nächste Auto
erst in drei Tagen kommen wird."
Völlig abwegig –
wie alles an Tartarottis Ausführungen – ist natürlich auch dieses Beispiel und erst recht die Behauptung, dass es sich dabei um eine allgemein verbreitete Verhaltensweise ("bürgerliche Tugend") handle. Weitaus
realistischer ist das, was ich tagsüber regelmäßig beobachten kann: Passanten,
die trotz herannahender Autos wie von Sinnen bei Rot über die Kreuzung stürmen,
weil sich auf der anderen Straßenseite der Linienbus in der Haltestelle zur
Abfahrt bereit macht. Solche Szenen kann man auch durchaus mit Personen
erleben, die ein oder zwei kleine Kinder dabei haben, die sie auf ihrem
Amoklauf über den Asphalt hinter sich herziehen.
Hier ist es
die egoistische (und gleichzeitig hinsichtlich der Gefahren gedankenlose)
Mentalität "Ich muss alles haben, und es muss gleich sein", die das
Verhalten der Menschen prägt. In spätestens 10 Minuten käme der nächste Bus. Aber
warten, sich Zeit nehmen, "Verzicht" üben (sei es auch nur im
Interesse der eigenen Sicherheit oder der Vorbildwirkung für Kinder) – das ist
in unserer Gesellschaft für viele Menschen nicht mehr akzeptabel. Darin (und
sicher nicht in einer übertriebenen Gesetzestreue) ist eine moderne
"bürgerliche Tugend" (= Untugend) zu erblicken!
Weiter schreibt
Tartarotti:
"Wir
sind auch das Land, in dem es wohlige Gefühle des Behütetseins verleiht, dass
dort überhaupt eine Ampel steht oder auch ein Kreisverkehr."
Da wären
sie also wieder in Tartarottis journalistischen Meisterstücken: die Ampeln,
samt dazugehöriger Polemik gegen sie (und gegen Kreisverkehre auch gleich).
Wie
bescheuert muss jemand sein, um an Einrichtungen Anstoß zu nehmen, die einzig
und allein einem Zweck dienen: den Verkehr sicherer zu machen und damit
insbesondere Leben und körperliche Unversehrtheit von Menschen zu schützen; und gleichzeitig auch noch über jene Menschen zu spötteln, denen eine
solche Einrichtung ein Sicherheitsgefühl gibt!
Am Schluss
seines Artikels kommt Tartarotti gänzlich ins Psychologisieren – oder besser gesagt ins Phantasieren. Er meint nämlich:
"Dabei
geht es weniger um Sicherheit, als um ein Ritual: Der Staat zeigt, dass er sich
um uns kümmert, und wir zeigen, dass wir uns diesem Kümmern fügen. Wer den Sinn
solcher nahezu religiöser Demutsgesten hinterfragt, begeht eine
Respektlosigkeit gegenüber Obrigkeit und Gemeinwesen.
Freiheit?
So weit kommt's noch!"
Diese irrwitzigen Schlussfolgerungen
leitet Tartarotti wohlgemerkt aus seiner an den Haaren herbeigezogenen Anekdote über die Passanten ab, die angeblich um drei Uhr Früh bei Rot an der leeren Kreuzung warten!
Was Verkehrsampeln doch alles anrichten können – nicht an Kreuzungen, aber fernab von diesen in manchen Gehirnen.