Mittwoch, 20. April 2016

"TINA" – Gibt es keine Alternative?

Vorbemerkung:

"TINA" ("There is no alternative") – das ist die angeblich von Margaret Thatcher kreierte Parole, wonach es zum kapitalistischen bzw. markt­wirt­schaftlichen System keine Alternative gäbe.

Über dieses Thema habe ich mich neulich mit dem griechischen Autor Nikos Dimou (Νίκος Δήμου) in seinem Blog auseinandergesetzt.

Kern ist dabei ein Blog-Artikel Dimous vom 8. April 2016 (in griechischer Sprache). Er trägt den Titel "H TINA και ο Ludwig" (= "TINA und Ludwig" [gemeint ist der frühere deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, auf den maßgeblich die Etablierung der von Dimou favorisierten "Sozialen Marktwirtschaft" im Deutschland der 1950er und 1960er Jahre zurück­geht]). Hier der Link zu Dimous Blog-Eintrag:

Wie in Anbetracht unserer grundlegenden ideologischen Auffassungs­unterschiede nicht anders zu erwarten, konnte ich Dimous Ausführungen nicht zustimmen und äußerte meine Kritik daran in einem Kommentar zu dem Blog-Eintrag. (Link zu meinem Originaltext auf Griechisch: hier )

Diesen Kommentar von mir möchte ich jetzt – in leicht modifizierter Form – auch hier in meinem eigenen Blog in deutscher Übersetzung veröffent­lichen. Ich denke, dass mein Text auch dann aussagekräftig ist, wenn man Dimous Artikel, auf den er sich bezieht, nicht kennt.
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Ich bezweifle nicht, dass Nikos Dimou Anhänger des Kapitalismus (oder sagen wir: der freien Marktwirtschaft) in einer etwas "sanfteren" Form ist – in jener, die "Soziale Marktwirtschaft" heißt, wie er auch in seinem Blog-Artikel erwähnt.

Das bedeutet aber im Kern immer Unterordnung unter die Ansprüche der Arbeitgeber/Unternehmer (der Einfachheit halber wollen wir so die Eigentümer der Produktionsmittel bezeichnen). Es bedeutet in erster Linie die Akzeptanz der Unterscheidung zwischen Starken und Schwachen.

In dieser Hinsicht verkörpert die Idee der sozialen Marktwirtschaft nicht nur etwas zutiefst Unwürdiges (weil die Arbeitnehmer mit ihr zu Bittstellern herabsinken: Bittsteller für ein bisschen bessere Bedingungen ihrer Arbeit/Unfreiheit und für ein wenig mehr Krümel vom Reichtum, den sie selbst mit ihrer eigenen Tätigkeit geschaffen haben). Es ist noch etwas Anderes: Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass diese Form der "Kooperation" der Schwachen mit den Starken zu Lasten der Ersteren ausgegangen ist. Denn die Arbeitsbedingungen haben sich verschlechtert, die (ohnedies beschränkten) Arbeitnehmerrechte werden ständig beschnitten, die Rolle des Staates (und seiner Institutionen) wird permanent abgewertet, und der Reichtum konzentriert sich immer mehr in den Händen von Wenigen.

Mit anderen Worten: Dimous schöne Vorstellung von einer sozialen Marktwirtschaft ist weitgehend gescheitert. Und das ist (zumindest im Nachhinein betrachtet) auch logisch: Wenn man versucht, sich mit seinem Ausbeuter zu arrangieren, anstatt gegen ihn zu kämpfen, wenn man ihn sogar als Partner statt als Gegner ansieht, wird das Resultat üblicherweise darin bestehen, dass man dessen (ohnedies schon mächtige) Position noch weiter stärkt – so sehr, dass er einen schließlich total beherrschen wird.

Die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders (die Dimou so beeindruckt) ist vorüber. Es scheint sich dabei eher um eine kurze Übergangsperiode vor dem völligen Sieg des Kapitalismus in seiner "authentischeren" Form gehandelt zu haben.

So viel zur sozialen Marktwirtschaft.

Mein ursprünglicher Kommentar im Dimou-Blog (auf den Dimou mit seinem Artikel "TINA und Ludwig" replizierte) bezog sich aber auf etwas Allgemei­neres. Ausgangspunkt für mich waren dabei Bemerkungen Dimous wie die folgenden:

"Άλλωστε ό,τι και να πείτε για τον καπιταλισμό (και οι επικρίσεις σας είναι σωστές) σκοντάφτει σε ένα σοβαρό πρόβλημα: άδικος, άπληστος, απάνθρωπος - είναι το μοναδικό οικονομικό σύστημα που λειτουργεί."
=
"Was immer Sie auch über den Kapitalismus sagen mögen (und Ihre Kritik ist richtig), stößt im Übrigen auf ein ernstes Problem: [sei er auch] ungerecht, habgierig, unmenschlich – er ist das einzige Wirtschafts­system, das funktioniert."
[Nikos Dimou am 7. April 2016 als Antwort auf einen von mir verfassten Kommentar]

oder:
"Ο καπιταλισμός είναι σαν την δημοκρατία είναι ένα άδικο και ατελές σύστημα αλλά το μόνο που λειτουργεί (εναλλακτική λύση δεν λειτούργησε ακόμα καμιά)."
=
"Der Kapitalismus ist wie die Demokratie – er ist ein ungerechtes und unvollkommenes System – aber das einzige, das funktioniert (Alternative hat noch keine funktioniert)."
[Nikos Dimou in einem Kommentar im Juni 2007]

Aber was ist das Anderes als das Dogma "There is no alternative"? Und zwar nicht zu 50% (wie Dimou in seinem Artikel behauptet), sondern zu 100%. Dass Dimou den Kapitalismus "verbessern, kontrollieren und gerechter machen" möchte (wie er immer versichert), bedeutet nicht, dass es für ihn eine Alternative zum Kapitalismus gäbe. Eine Modifika­ti­on/Re­for­mierung ist etwas Anderes als eine Abschaffung/Ersetzung.

Falsch (vor allem in logischer Hinsicht) ist in diesem Zusammenhang auch Dimous Behauptung:

"Δεν είμαι οπαδός της ΤΙΝΑ αλλά της soziale Marktwirtschaft που απέδειξε ότι υπάρχει εναλλακτική λύση – συνδυασμός της ελεύθερης αγοράς με κοινωνικό κράτος."
=
"Ich bin kein Anhänger des Prinzips TINA, sondern der sozialen Marktwirtschaft, die bewiesen hat, dass es eine Alternative gibt – die Kombination des freien Marktes mit dem Sozialstaat."

Charakterisieren wir die soziale Marktwirtschaft meinetwegen als eine gemäßigte Ausprägung des Kapitalismus (oder eben der Marktwirtschaft, die ja auch schon begrifflich in dem Ausdruck drinnensteckt); sozusagen als Marktwirtschaft unter Beimischung gewisser sozialer Ideen und Elemente (eine Art "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz"). Aber keinesfalls handelt es sich um eine Alternative.

Ebenso ist es nicht völlig richtig, wenn Dimou am Beginn seines Blog-Eintrags schreibt:

"O δικός μας blogger με το ψευδώνυμο Viennezos, με αποκάλεσε εχθές «νέο-φιλελεύθερο» και οπαδό της TINA."
=
"Unser Blogger mit dem Pseudonym Viennezos hat mich gestern als «Neoliberalen»  und als Anhänger des TINA-Prinzips bezeichnet."

Anhänger des TINA-Prinzips, ja (siehe oben, warum). Aber ich habe ihn nicht als "Neoliberalen" bezeichnet. Folgendes hatte ich geschrieben (bezugnehmend auf Dimous Positionierung, wonach der Kapitalismus "das einzige Wirtschaftssystem ist, das funktioniert"):

"Mit anderen Worten: die bekannte TINA-Parole ("There is no alterna­tive"). Ein hinterhältiger Propagandatrick der Neoliberalen (beginnend mit Margaret Thatcher) und Zeichen des geistigen und moralischen Bankrotts jener, die die Parole übernehmen, weil sie wirklich daran glauben."

Zwei Gruppen verwenden also (meiner Meinung nach) den TINA-Slogan: nicht nur die Neoliberalen selbst, sondern auch manch andere Leute, insbesondere jene, die sich für den "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" (in der oben von mir erwähnten Form) als ihres Erachtens bestmögliche Lösung aussprechen.

Zu dieser zweiten Kategorie zähle ich Herrn Dimou.

Und ja, das impliziert, dass ich leider auch ihm geistigen und moralischen Bankrott vorwerfen muss. Die Begründung ist einfach:

1) Was vom Menschen geschaffen wurde, kann von ihm nachträglich auch wieder beseitigt werden, es ist nichts Unveränderliches. Die Anhänger des TINA-Prinzips verwechseln Menschenwerk mit den Naturgesetzen. Letztere können in der Tat nicht aufgehoben werden. Der Kapitalismus (oder jedes andere gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische System) ist kein Naturgesetz! Die sozialen Beziehungen, die Art und Weise, mit der die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse stattfindet, die Regelung der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln usw. – all das liegt im Ermessen seiner Schöpfer, also der Menschen. Zu behaupten (und tatsächlich zu glauben), dass es in solchen Angelegenheiten keine Alternative gäbe, ist geistiger Bankrott. Dies umso mehr, wenn dieselben Menschen, die bei diesen Themen "die Waffen strecken", in anderen Bereichen – besonders in jenem der Technologie – glühende Anhänger von Fortschritt und Entwicklung sind und diesbezüglich riesiges Vertrauen in die intellektuellen Fähigkeiten der Menschheit hegen.

2) Aber noch schwerwiegender ist der moralische Bankrott:

Jemand begreift und gibt zu, dass ein System "ungerecht, habgierig, unmenschlich usw." ist, aber dennoch verteidigt er es, weil er sich keine Alternative vorstellen kann?

Die praktischen Konsequenzen einer solchen Haltung sind in moralischer Hinsicht schrecklich. Ich möchte das mit zwei konkreten Beispielen zeigen:

• Am 27. April 2006 verfasste Dimou einen Blog-Artikel mit dem (von ihm natürlich ironisch gemeinten) Titel "Κάτω η κατανάλωση!" ("Nieder mit dem Konsum!"). (Link: http://ndimou.gr/ndimou/2006/04/blog-post_27.html)
In dem Artikel meint er unter anderem, dass jemand, der den Konsum bekämpfe, das Glück (dritter Personen) bekämpfe und es ihnen nehmen wolle. (!) Daraus abgeleitet stellt Dimou die rhetorische Frage:

«Όμως ρώτησες τη νοικοκυρά τι ανακούφιση της έδωσε το νέο πλυντήριο;»
=
"Aber hast du die Hausfrau gefragt, was für eine Erleichterung ihr die neue Waschmaschine gebracht hat?"

Das veranlasste einen Blog-Leser ("sizenagir") zu folgendem Kommentar (dem ich zur Gänze zustimme):

"Ich würde nicht wollen, dass ein Kind – noch dazu unter unmenschlichen Bedingungen – gearbeitet hat, damit ich ein Produkt konsumieren kann, das mich schmückt, kleidet, unterhält usw.
[…]
"Wenn die Hausfrau oder das Mädchen wüsste, dass ihre «Waschmaschine» ein Kind von 8 Jahren für eine Schüssel Reis zusammengebaut und dabei 16 Stunden durchgehend gearbeitet hat – würde sie dann das Gerät kaufen? Haben Sie sie gefragt, Herr Dimou?"
(Link)

Dimous ebenso lakonische wie empörende Reaktion darauf lautete:
«Όσο για τις ενοχές για το παιδάκι που συναρμολογεί πλυντήρια κλπ. αν δεν το είχε κι αυτό, θα πέθαινε της πείνας.»
(Link [siehe dort den 6. Absatz])
=
"Was die Schuldgefühle wegen des Kindes betrifft, das Waschmaschinen  zusammenbaut usw.: Wenn es das [= diese Arbeit] nicht hätte, würde es verhungern."

Diese Worte Dimous offenbaren genau jenen moralischen Bankrott, den ich zuvor angesprochen habe.

• Das zweite Beispiel betrifft die Ausbeutung der Beschäftigten in den chinesischen Fabriken des taiwanesischen Elektronik-Konzerns Foxconn (und natürlich nicht nur dort). Die Arbeitsbedingungen sind so hart, dass sie einige der dort Beschäftigten sogar in den Selbstmord getrieben haben.

Nikos Dimou kommentierte diese Vorfälle neulich so:

"Ο κόσμος είναι καλύτερος (προσοχή: όχι καλός) για όλους, [...]. Ακόμα και για τον εργαζόμενο στην Foxconn αλλιώς δεν θα εκκρεμούσαν χιλιάδες αιτήσεις για πρόσληψη. Σαφώς για μας είναι σκλάβος (αν και βελτιώθηκαν οι συνθήκες) αλλά για την Κίνα είναι «προνομιούχος». Δουλεύει σκληρά 2-3 χρόνια, μαζεύει χρήματα και γυρίζει στο χωριό του όπου είναι ...κεφαλαιούχος και ανοίγει μαγαζί."
(Link)
=
"Die Welt ist [heute] für alle besser (Vorsicht: «besser», nicht «gut»), […]. Sogar für den Beschäftigten bei Foxconn – sonst gäbe es dort nicht tausende Stellenbewerbungen. Natürlich ist er nach unseren Maßstäben ein Sklave (auch wenn sich die Bedingungen verbessert haben), aber für chinesische Verhältnisse ist er ein «Privilegierter». Er arbeitet 2-3 Jahre hart, spart Geld und kehrt in sein Dorf zurück, wo er «Kapitalist» ist und einen Laden eröffnet."

Ich glaube nicht, dass Dimou Kinderarbeit oder die Ausbeutung der Arbeiter/innen in der chinesischen Fabrik gut findet. Ich bin mir sogar nahezu sicher, dass er das nicht macht. Aber er betrachtet die geschilderten Zustände als mehr oder weniger unvermeidliche "Kollateralschäden" bei der Anwendung eines Systems, das (seines Erachtens) trotz allem im Grunde ein gutes und für den Menschen vorteilhaftes ist und dessen Existenz er (mangels Alternative) als unentbehrlich ansieht.

Ich erkenne keinen wirklichen Unmut (geschweige denn Empörung) Dimous über negative Phänomene des Kapitalismus, wenn er die Bezugnahme (Dritter) auf derartige Phänomene kommentiert. Und neben dem lediglich kühl-distanziert-förmlichen Bedauern habe ich an seinen Äußerungen etwas Anderes bemerkt, für das mir sogar ein eigener Ausdruck in den Sinn gekommen ist. Man kann es die "Relativierung von Unglück und Ungerechtigkeit" nennen:

Kinderarbeit in der Dritten Welt ist nicht in Ordnung, aber andererseits bewahrt sie die Kinder vor dem Verhungern so lautet die Überlegung. Oder: Die Arbeiter/innen in der chinesischen Fabrik sind für unsere Verhältnisse Sklaven, aber die Arbeit dort kann ja nicht so schlecht sein, wo es doch tausende Bewerbungsgesuche gibt und schließlich jemand, der "2-3 Jahre hart arbeitet", die Möglichkeit hat, in sein Dorf zurückzukehren und dort seinen eigenen Laden zu eröffnen. – Mit anderen Worten: Wie schreck­lich die Verhältnisse auch sein mögen, sie werden so (um)interpretiert, dass sie für die Betroffenen immer auch etwas Gutes haben, ihnen zum Vorteil gereichen.

Diese "Nachsichtigkeit" und Toleranz, mit der die Anhänger des TINA-Dogmas gelassen den Ungerechtigkeiten und Schäden begegnen, die das "einzig und allein" gültige System verursacht, ist Ausdruck ihres moralischen Bankrotts.