Montag, 25. Juli 2016

Der verschwiegene Putschversuch

Hasspostings im Internet werden (zu Recht) kritisiert. Warum wird aber gegen Hassjournalismus so wenig Stellung bezogen? Wahrscheinlich, weil man damit meist postwendend als Gegner der Medienfreiheit denunziert wird. Dieser unredliche Vorwurf  sollte einen aber nicht davon abhalten, das Unwesen anzuprangern, das (insbesondere) der Boulevard-Journalismus treibt.

Aktuelles Beispiel: Der Leitartikel der sattsam bekannten Dr. Martina Salomon im "Kurier" vom 23. Juli 2015. Unter dem (heuchlerischen) Titel "Deradikalisierung ist angesagt" schürt sie (nicht zum ersten Mal) anti-islamische Ressentiments.

Näher betrachtet werden soll aber jene Passage, in der es zwar indirekt auch um den Islam geht, wo Salomon aber in erster Linie die jüngsten Ereignisse in der (bzw. betreffend die) Türkei kommentiert – bzw. dies eben gerade nicht tut.

Sie schreibt Folgendes:

"Jahrzehntelang ignorierte man die islamische Missionierung Europas – vor allem durch Saudi-Arabien, das seit Langem ultrakonservative Vereine im Ausland finanziert. Parallel dazu hat sich die Türkei (starker NATO-Partner Europas und einst dank des Offiziers Mustafa Kemal Atatürk Vorreiter einer Trennung von Religion und Staat in der islamischen Welt) zu einer autoritär-nationalistischen Gesellschaft gewandelt. Die EU‑Milliarden für den Aufbau eines Rechtsstaates waren wohl eine Fehlinvestition. Präsi­dent Erdogan tritt seit Jahren imperialistisch auf – wenn er an 'seine' Türken im Ausland appelliert, sich nicht zu integrieren. Niemand kann von seinen Plänen über­rascht worden sein. Er hat sie immer offen dargelegt. Das Ergebnis war vergangene Woche sichtbar, als Tausende seiner Fans sogar mit vereinzelten Tötungsaufrufen durch Wien zogen. Sie nutzten Österreichs Meinungs- und Religionsfreiheit zur Unter­stützung eines Autokraten, der beides nicht akzeptiert – pervers und verabscheuungs­würdig."

Bemerkenswert ist schon mal, wie sehr Erdogan in der letzten Zeit zum Feindbild des westlichen Journalismus (und der westlichen Gesellschaft insgesamt) geworden ist; während die gleichen Kreise etwa dem früheren Gaddafi in Libyen oder Assad in Syrien – und damit zweifellos mindestens ebenso schlimmen "Autokraten" wie Erdogan – deutlich wohlwollender, ja oft sogar uneingeschränkt positiv gegenüberstehen. Das wäre einmal einer eigenen kritischen Betrachtung wert.

Die eigentliche Unverfrorenheit der obigen Passage in Salomons Leitartikel liegt aber darin, dass sie den zentralen Punkt des Geschehens der letzten Tage kurzerhand verschweigt, um die übrigen (damit untrennbar verbunde­nen) Ereignisse in ihrem Sinne propagandistisch uminterpretieren und in ein schlechtes Licht rücken zu können.

Der Ablauf der Geschehnisse war, kurz gefasst, bekanntlich folgender:

In der Nacht vom 15. auf 16. Juli wurde in der Türkei von Teilen des Militärs ein Putschversuch unternommen, der aber nach wenigen Stunden zusammenbrach. Das führte noch in derselben Nacht unter anderem in Wien zu einer Kundgebung von mehreren tausend Türken bzw. türkischstämmigen Österreichern, die mit einem Marsch von der Türkischen Botschaft zum Parlament gegen den Putschversuch demonstrierten bzw. dessen Scheitern  feierten. Dem folgte eine weitere Kundgebung im Lauf des 16. Juli.

Über diese angeblich so schrecklichen Wiener Vorkommnisse ist seither viel geschrieben und geurteilt worden. In Österreich hat sich – unter Volk und Politikern – wieder einmal eine widerliche und gefährliche Mischung aus Bösartigkeit, Niedertracht, Verlogenheit, Kleingeistigkeit und Dummheit manifestiert. Die Kommentierung der Kundgebungen durch die Leser/innen in den Online-Ausgaben der großen österreichischen Zeitungen spricht diesbezüglich eine ganz eindeutige Sprache. "Demonstranten raus aus Österreich und ab in die Türkei" war dabei das zentrale Motto. (Kombiniert übrigens mit zahlreichen positiven Stellungnahmen zum Putsch­versuch, als dieser noch im Gange war, und danach spiegelbildlich mit viel Bedauern über sein Scheitern. So viel zur demokratischen Gesinnung hierzulande.) Auch diesem Thema wäre ein eigener Blog-Eintrag zu widmen. Hier beschränke ich mich auf Salomons Ausführungen in ihrer Rolle als Stimme des empörten Volkes.

Wer obiges Zitat aus ihrem Leitartikel liest, stellt verwundert fest: Der Putschversuch wird von Salomon mit keinem Wort erwähnt! (Auch an keiner anderen Stelle des Texts.) Der Putschversuch wird also totge­­schwie­gen, womit sich die Ereignisse in einer Weise verzerrt darstellen und inter­pre­tieren lassen, die Salomons Intentionen entspricht:

Erdogan – so meint sie zunächst – habe seine Pläne zu einem autoritären Umbau des Staates immer offen dargelegt (mag sein), und er trete seit Jahren "imperialistisch" auf, wenn er an die Auslandstürken appelliere, sich nicht zu integrieren (auch dem sei nicht widersprochen, obwohl man schon hier mit der Kritik an Salomon einhaken sollte). Schäbig und verlogen wird Salomons Kommentar aber jedenfalls dort, wo sie folgendermaßen fortsetzt:

"Das Ergebnis war vergangene Woche sichtbar, als Tausende seiner Fans sogar mit vereinzelten Tötungsaufrufen durch Wien zogen."

Nein, Frau Dr. Salomon! Die beiden in Rede stehenden Kundgebungen waren nicht "das Ergebnis" dessen, was Sie genau davor über Erdogan erwähnen. Sie waren vielmehr Ergebnis des Faktums, dass es unmittelbar bzw. wenige Stunden vor ihrer Abhaltung einen Putschversuch gegeben hat und dieser Putschversuch (aus demokratischer Sicht: glücklicherweise) gescheitert ist. Darauf wurde mit den Versammlungen reagiert. Sie wissen das natürlich, Frau Dr. Salomon, aber Sie verlieren kein Wort darüber und konstruieren statt dessen ganz andere, falsche Zusammen­hänge!

Natürlich ist nicht zu leugnen, dass die Demonstranten implizit auch den Sieg des regierenden türkischen Präsidenten Erdogan bzw. seiner Partei AKP über die Putschisten gefeiert haben. Das liegt aber in der Natur der Sache, dass die Freude über einen misslungenen Putsch immer auch eine (mehr oder weniger intensive) Unterstützung der im Amt befindlichen Regierenden beinhaltet. Unterstützt wird hierbei im Fall der Türkei immerhin eine durch demokra­ti­sche Wahlen legitimierte politische Konstellation mit Erdogan als Staats­präsidenten und "seiner" AKP als Regierungspartei. Liest man (bei­spiels­weise) Salomons Pamphlet, könnte man geradezu den umgekehrten Eindruck gewinnen: dass sich mit Erdogan ein Diktator an die Macht geputscht hätte, der von seinen "Fans" dafür verwerflicherweise bejubelt worden wäre. Salomon ist skrupellos genug, diesen Eindruck sogar gezielt zu erzeugen, indem Sie schreibt:

"Sie [= die Demonstranten] nutzen Österreichs Meinungs- und Religions­freiheit zur Unterstützung eines Autokraten, der beides nicht akzeptiert – pervers und verab­scheuungs­würdig."

Wenn man diesen ungeheuerlichen Satz und die Geschehnisse der Nacht des Putschversuchs in derselben plakativen Weise interpretieren möchte, in der Salomon agitiert, könnte man ihn so deuten: "Salomon hält es für pervers und verabscheuungswürdig, wenn Menschen den Sieg der Demo­kratie feiern, der in ihrer Heimat bzw. ihrem Herkunftsland gerade statt­ge­funden hat."

Es ist übrigens darauf hinzuweisen, dass in der Türkei laut Medienberichten auch alle Oppositionsparteien den Putschversuch verurteilt haben. Wer sich über dessen Misslingen gefreut hat, ist also nicht automatisch ein "Fan" Erdogans.

Weiters sei zur Klarstellung vermerkt:

Soweit Salomon bei den Demonstrationen "vereinzelte Tötungsaufrufe" vernommen hat (Wie eigentlich? War sie bei den Kundgebungen dabei oder hat sie Tonmitschnitte?), so gilt für diese Aufrufe das Gleiche wie hinsichtlich der (bei der zweiten Kundgebung) von einigen Teilnehmern umgeworfenen Sessel und Tische eines kurdischen Lokals auf der Mariahilfer Straße (wovon es tatsächlich auf Youtube Bildmaterial gibt) :

Hassparolen und Gewalt sind uneingeschränkt abzulehnen, und straf­recht­lich relevante Vorgänge sind aufzuklären und zu ahnden. Nicht mehr und nicht weniger. Dass bei derartigen Kundgebungen auch einige Fanatiker, Hitzköpfe und Trittbrettfahrer (denen es tatsächlich nicht um Demokratie und Ablehnung des Putsches geht) dabei sind, wird sich wohl nicht vermeiden lassen. In der Öffentlichkeit wurden die oben erwähnten Einzelfälle (von denen sich ja auch die Demonstrationsveranstalter ausdrücklich distanziert haben) jedoch absichtlich zu dramatischen Geschehnissen hochgespielt – als Vorwand, um all jene Ressentiments ausleben zu können, die sich ja auch in Salomons Kommentierung widerspiegeln. 

Was rechtlich noch am ehesten gegen die Kundgebungen eingewendet werden könnte: dass jedenfalls die erste und vermutlich auch die zweite Versammlung nicht angemeldet waren (wie das vom Gesetz verlangt wird). Soll sein. Dieser Verstoß wurde ja sozusagen "über vielfachen Wunsch des Volkes" bereits zur Anzeige gebracht, wie den Medien zu entnehmen ist. Für mich ist diese verwaltungsrechtliche Frage ein Nebenaspekt. Wenn sich Menschen aus Anlass eines Putschversuchs spontan zusam­men­finden, um weitgehend friedlich gegen diesen zu demonstrieren bzw. sein Scheitern zu feiern, so gehört meine Unterstützung diesen Menschen (jedenfalls solange ich nichts Nega­ti­ves über sie weiß). "Pervers und verabscheuungswürdig" finde ich deren Verhalten ganz und gar nicht.

"Pervers und verabscheuungswürdig" ist für mich vielmehr jener Journa­lis­mus, der die geschilderten Ereignisse bewusst mit diesen Worten charak­teri­siert und die Zusammen­hänge kaltblütig verfälscht, um im Sinne der eigenen (und darüber hinaus landes­übli­chen) Ressentiments pauschal gegen die Demonstrationsteilnehmer Stimmung zu machen.

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PS vom 28. Juli 2016: 

Gestern erschien in der Zeitung "Der Standard" ein höchst lesenswerter Gastkommentar des Politologen Dr. Hakan Akbulut mit dem Titel "Keine türkischen Verhältnisse in Österreich!". Der Verfasser beschäftigt sich darin gleichfalls mit den Wiener Demons­tra­tionen nach dem Putschversuch in der Türkei, und seine Einschätzung der Ereignisse deckt sich in bemerkenswerter Weise mit jener von mir im obigen Blogeintrag. Herrn Dr. Akbulut sei herzlich für seinen informativen und coura­gierten Text gedankt.

Hier der Link: 
http://derstandard.at/2000041908949/Keine-tuerkischen-Verhaeltnisse-in-Oesterreich 

Übrigens: Wer meint, dass ich mit meinem negativen Urteil über die ("angestammten") Österreicher übertrieben hätte, sollte sich die Reaktionen der Leser/innen im Online-Standard auf Akbuluts Artikel ansehen.