Montag, 12. Dezember 2016

Panikmache von zwei Seiten

Die tägliche Glosse auf Seite 1 des "Kurier" ist ein nahezu permanenter Hort der Vertrottelung. Ein paar besonders anschauliche Beispiele habe ich ja bereits hier im Blog präsentiert. Eine positive Ausnahme sind jene Texte, die manchmal Birgit Braunrath verfasst.

Sie gibt sich zwar zuweilen kräftig Mühe, ihr Niveau zu senken – also dorthin, wo sich jenes ihrer Kollegen Guido Tartarotti und Andreas Schwarz befindet, wenn ihnen das Verfassen der Kolumne überlassen ist (was leider nahezu permanent geschieht – womit sich der Kreis zum ersten Satz schließt).

Auch bei Frau Braunrath kommen dann unter Umständen krampfhafte, dümmliche Wortspielchen heraus, wie in ihrem Kolumnentext in der Ausgabe vom 11. Dezember 2016: Schon die Überschrift heißt "Emotional­rats­wahl". Und weil die Wortschöpfung gar so lustig ist, steht dann im letzten Absatz nochmals: "Der Emotionalratswahlkampf kann beginnen." *

*[Für nicht-österreichische Blog-Leser/innen: Gemeint ist der nächste Wahlkampf betreffend den Nationalrat (das österreichische Parlament), der nach Braunraths Einschätzung voraussichtlich sehr emotional geführt werden dürfte. Wenn man in einer "Qualitätszeitung" schreibt, darf man diese Wörter verbinden und das als originellen sprachlichen Gag den Leser/innen vorsetzen.]

Die Rede ist dann beispielsweise auch davon, dass ein "überbreiter Schwer-Wahl­kampf" (nämlich der rund ein Jahr dauernde Bundes­präsi­dent­schafts­wahlkampf) zu Ende gegangen sei. Der Ausdruck ist offensichtlich eine Analogie zu "überbreiten Schwertransporten" auf den Straßen, wodurch wahrscheinlich zu einem "Schmunzeln" (wie das immer so schön heißt) angeregt werden soll. Mir vergeht das Schmunzeln bei so viel kindischer Einfalt, und ich frage mich, warum Braunrath sich veranlasst fühlt, ebenfalls in die seichte Witzkiste zu greifen, obwohl sie es doch auch anders könnte. (Sie erinnert damit irgendwie an Vea Kaiser, über die ich im vorigen Blogeintrag schrieb.)

Aber ungeachtet all dessen sei Frau Braunrath konzediert, dass ihre Kolumnentexte auf Seite 1 meinem Eindruck nach im Großen und Ganzen so verfasst sind, dass sie damit weder sich selbst noch ihr Publikum zu einem Trottel macht. (Wie bescheiden man doch als österreichischer Medien­konsument in seinen Ansprüchen wird!)

In der Sache habe ich allerdings gegen ihren Text vom 11. Dezember 2016 etwas einzuwenden – oder besser gesagt: an ihm etwas zurechtzurücken:

Sie bezieht sich darin auf eine aktuelle Umfrage, derzufolge rund 75% der Österreicher mit ihrem Leben zufrieden seien, bzw. in Tirol und Vorarlberg sogar über 80%. Laut Braunrath sei dieses Ergebnis 

"(e)in Kinnhaken für Schwarzmaler, Schlecht­reder, Hassschürer und Angst­beschwörer."

Und sie zieht folgenden ironischen Schluss:

"Wie lässt sich in einem Land der mehrheitlich Zufriedenen die Rettung vor Not, Elend und Untergang verkaufen? Keine Sorge, die Oppositi­ons­führerpartei hat bereits verkündet, dass der Wahlkampf weitergehe: «Nach der Wahl ist vor der Wahl.»"

Mit der "Oppositionsführerpartei" meint Braunrath die rechts stehende FPÖ. Am Ende schreibt sie, wiederum ironisch: 

"Der Emotionalratswahlkampf kann beginnen. Vielleicht kapieren dann auch die Österreicher endlich, dass es ihnen nicht so gut geht, wie sie es empfinden." 

Der Grundgedanke von Braunraths Ausführungen leuchtet mir durchaus ein. Auf den einfachsten Nenner gebracht, verurteilt sie die Panikmache durch eine politische Partei, nämlich die FPÖ, ohne dass für die Panik (gemessen zumindest an der subjektiven Befindlichkeit der meisten Österreicher/innen) ein Anlass bestehe.

Dieser Grundgedanke ist auch nicht unbedingt kritikwürdig (wenn man davon absieht, dass er vielleicht genau deshalb in die Kolumne Eingang gefunden hat, weil er exakt der propagandistischen Blattlinie des "Kurier" entspricht, die darin besteht, hartnäckig gegen die FPÖ zu wettern). Aber zurechtrücken muss man Frau Braunraths Vorwurf schon. Sie betreibt nämlich eine Art Doppelmoral – oder anders gesagt: Sie kritisiert höchst einseitig. Denn was sie der FPÖ (wahrscheinlich zu Recht) ankreidet, müsste sie konsequenter- und paradoxerweise ihrer eigenen Zeitung – und da vor allem der Chefredaktion – mindestens genauso vorwerfen!

Es vergeht kaum ein Leitartikel oder sonstiger Kommentar vor allem des Gespanns Helmut Brandstätter / Martina Salomon, in dem nicht die dunklen Wolken beschrieben werden, die sich unheilvoll über Österreich zusam­men­ziehen und vermeintlich das Wohlergehen von Land und Volk in seinen Grund­festen bedrohen. Bei der FPÖ sind diese dunklen Wolken primär die Ausländer aller Art; beim Propagandastab des "Kurier" sind es (vermeint­li­che oder echte) Phänomene wie Bildungsmisere, mangelnde Qualifikation der Beschäftigten, Überbürokratisierung, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, fehlende Leistungsbereitschaft, ein "unternehmerfeindliches" Klima, zu hohe Steuern und sonstige Abgaben, ein zu niedriges Pensionsalter usw. usw.

Die Konsequenzen, die den uneinsichtigen Österreicher/innen (bzw. Euro­päer/innen) drohen (bzw. als drohend angekündigt werden), wenn sie nicht das tun, was die neoliberale Blattlinie des "Kurier" vorgibt, lesen sich dann zum Beispiel folgendermaßen: 

- "Die Gesellschaft der Zukunft wird von Wissen leben, wir vergeuden wertvolle Zeit." (Brandstätter, Kurier vom 10. Dezember 2016) 

- "Auf Dauer lässt sich der hohe Sozialstandard auf unserem Kontinent nur verteidigen, wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen können."
(Salomon, gleichfalls im Kurier vom 10. Dezember 2016) 

- "Es wird kein Weg an einem späteren Pensionsalter vorbeiführen. Parallel dazu muss ein Arbeitsmarkt für Ältere aufgebaut werden. Plus mehr private Pensionsvorsorge. Österreich zählt laut einer neuen OEDC-Studie zu den Schlusslichtern. […]
[…] Dazu kommen teils steinzeitliche Arbeitszeitregelungen, zu geringe Investitions­bereitschaft der Firmen und ein schwächlicher Kapitalmarkt."
(Salomon, Kurier vom 8. Dezember 2016) 

- "Damals [im Habsburger-Reich] hatte die 'Wiener Medizinische Schule' Weltruf. In einzelnen Fächern hat sie das immer noch. Doch unsensible Gesundheitsreformen, ein extrem unflexibles Arbeitszeitgesetz und absurde, intrigenanfällige Strukturen (siehe Unikliniken) gefährden diesen Vorteil. […]
Ein internationales Vorzeigemodell ist die 'duale Lehrlingsausbildung', Österreich gewinnt viele Lehrlingsolympiaden. Doch das Ganze steht auf tönernen Füßen, vor allem in Ballungsräumen, wo Eltern alles tun, um zu verhindern, dass ihre Kinder eine Lehre absolvieren, selbst wenn sie handwerklich begabt sind. […]
Die mangelnde Mobilität ist erschreckend. Weniger als ein Prozent der Wiener Arbeitslosen lässt sich österreichweit vermitteln. […]
[…] Nicht so super ist die Technik-, Naturwissenschafts-, Freihandels-, Marktwirt­schafts- und Kapitalmarktphobie. Wenn Österreich wirklich wieder 'great' in seiner Kleinheit werden will, gibt’s (nicht nur) hier noch einiges zu tun."
(Salomon, Kurier vom 26. November 2016)

Das sind wohlgemerkt nur Auszüge aus Kommentaren der beiden Kassandren in den letzten Tagen! Das Zitieren ließe sich nahezu endlos in die Vergangenheit fortsetzen.

Auch Polemik gegen Ausländer kann durchaus dazukommen – jedenfalls dann, wenn uns Frau Dr. Salomon ihre Sicht der Dinge erklärt. (Hier im Blog gibt es einschlägige Fallbeispiele.) Das klingt dann zum Beispiel so: 

- "Es ist nicht einmal mehr sicher, dass wir ein christlich geprägtes Land sind, in dem man Deutsch spricht. Bei so mancher U-Bahn-Fahrt in Wien wird man eines Besseren belehrt." (Salomon, Kurier vom 30. Jänner 2016)

Wo bei einer solchen Äußerung noch ein nennenswerter Unterschied zu der vom Kurier sonst so heftig kritisierten FPÖ liegt, ist für mich nicht erkennbar.

Im Lichte dieser Zitate möchte ich zur Verdeutlichung die oben wieder­gege­be­nen Aus­führungen Frau Braunraths leicht modifiziert wiederholen (die von mir vorgenommenen Änderungen sind in Fettdruck hervorgehoben):

Das Umfrageergebnis über die Zufriedenheit der Österreicher ist "(e)in Kinnhaken für Schwarzmaler, Schlechtreder, Hassschürer und Angst­beschwörer. – Auch für solche in Medien wie dem Kurier."

"Wie lässt sich in einem Land der mehrheitlich Zufriedenen die Rettung vor Not, Elend und Untergang verkaufen? Keine Sorge, der Kurier hat in einer Redaktionssitzung bereits verkündet, dass die mediale Propaganda­kampagne weitergehe: «Nach der Umfrage ist vor der Umfrage.»"

"Der nächste auf Emotionen aufbauende Propagandafeldzug kann beginnen. Vielleicht kapieren dann auch die Österreicher endlich, dass es ihnen nicht so gut geht, wie sie es empfinden." 

Wenn man den Kolumnentext statt auf die FPÖ auf den "Kurier" beziehen würde, wäre er also in gleicher Weise gültig. Dass ihn Frau Braunrath (in ihrem eigenen Interesse) so nicht schreiben konnte, ist klar. Ebenso klar ist aber leider, dass sich wieder einmal zeigt: Den Boulevardmedien ist nicht zu trauen. Sie manipulieren, sie verzerren, sie verschweigen, oder sie präsentieren nur einen Teil der Wahrheit. ("Echter" Lügen bedarf es also gar nicht.)

Das ist jedenfalls das Resultat. Ich möchte Frau Braunrath keineswegs unterstellen, dass sie all das im Schilde geführt hätte, als sie ihren Text schrieb. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass ihr diese Parallele zwischen FPÖ-Strategie und Kurier-Strategie gar nicht bewusst war. Insofern gilt meine Kritik (in diesem Punkt) sogar weniger der konkreten Journalistin als der medialen Struktur als solcher. Aber das ändert nichts an der Erkenntnis, dass höchste Wachsamkeit und Skepsis geboten ist bei allem, was einem der Journalismus – so vermeintlich überzeugend und schlüssig – vorsetzt.

Im Übrigen sei klargestellt: Beide Seiten (FPÖ und "Kurier") schüren (bewusst) Panik mit (bewusst) unzutreffenden Feindszenarien: Weder die Ausländer (nach Sicht der Freiheitlichen) noch die mangelnde Bereitschaft zur gänzlichen Unterwerfung unter den Kapitalis­mus/Neolibe­ralis­mus (nach Sicht des "Kurier") sind die zentralen Ursachen der tatsächlich vorhandenen Übel, Missstände und Probleme. Da müsste man – politisch, medial und gesellschaftlich – ganz andere Themen aufgreifen: mangelnde Solidarität (vor allem mit sozial Bedürftigen und sonstigen Randgruppen), Schwächung des Staates zum Nutzen Privater, ungleiche Vermögens- und Ein­kom­mens­verteilung, Unge­rechtig­keiten in der Besteuerung, usw. usw. Aber um sich mit solchen Themen näher zu beschäftigen – dafür sieht das Volk der mehrheitlich Zufriedenen ja gar keinen Anlass.