Montag, 22. Mai 2017

Fehleinschätzungen


1. Leser/innen und Redaktionsstuben:

Der Kurier-Journalist Josef Votzi meint, die Interessen und Bedürfnisse der Zeitungsleser/innen zu kennen. Dementsprechend behauptet er am Beginn seines Leitartikels vom 21. Mai 2017 Folgendes:

"Medienkonsumenten interessieren sich für das Leben in einer Redaktion in etwa so brennend wie für das in der Küche, wenn sie im Restaurant sitzen. Da wie dort zählt, ob das, was bestellt wurde, wie erwartet und rechtzeitig auf den Tisch kommt. Mit dem Alltag der Köche will niemand behelligt werden."

Der Vergleich zwischen Redaktionsstube und Restaurantküche ist aus diversen Gründen komplett verfehlt. Damit dieser Blog-Artikel nicht über­mäßig lang wird, sei darauf aber nicht weiter eingegangen. Im Zentrum meiner Kritik soll ein anderer Punkt stehen:

Ich möchte zu bedenken geben, dass man die Interessenlage der Medien­konsumenten genau umgekehrt sehen kann (und sehen sollte), wie Herr Votzi dies tut: Für jemanden, der (beispielsweise) Zeitung liest (beim Konsum anderer Massenmedien gilt klarerweise Ähnliches), wäre es höchst aufschlussreich zu wissen, was sich gleichsam "im Verborgenen" – also etwa in den Redaktionsstuben – abspielt, bevor uns die jeweilige Ausgabe der Zeitung präsentiert wird.

Wenn man diesen Einblick hätte, wäre man wahrscheinlich entsetzt und empört. Denn – spätestens – dann käme man wohl drauf, was einem als Leser/in von (Boulevard-)Zeitungen passiert: man wird manipuliert, für dumm verkauft und gegebenenfalls auch unverblümt belogen.

Ausgerechnet Josef Votzi selbst hat dies nur wenige Tage zuvor illustriert. Worum es dabei geht, ist zwar in der Sache reichlich belanglos, zeigt aber in seltener Deutlichkeit, wie (unseriös) der (Boulevard-)Journalismus agiert.

2. Ein angebliches "Latrinengerücht":

In der Ausgabe des Kurier vom Mittwoch, dem 10. Mai 2017, hatte Votzi gleichfalls einen Leitartikel geschrieben (Titel: "Ehe kaputt, aber wie sag ich's den Kindern?"). Hauptthema war die schwelende Krise in der SPÖ-ÖVP-Koalitions­regie­rung. Den ersten Teil seines Kommentars nützte er dabei für eine Polemik gegen eine (nicht nament­lich genannte) Gratis-Zeitung. Diese Polemik wird Votzi wenige Stunden später zum Bumerang.

Für das bessere Verständnis der Zusammenhänge sei der Textabschnitt – trotz seiner unsäglichen Banalität – vollständig zitiert. In der Sache von Interesse sind jene beiden Sätze, die ich mit Fettdruck hervorhebe:

"Dienstagfrüh in der U-Bahn. Gesprochen wird nicht. Allein die Augen erzählen Geschichten. Die meisten Menschen, die Zeitung lesen oder online surfen, bleiben bei einer Meldung hängen: Nach Langem hat es ein 'Millionenquiz'-Kandidat wieder bis zur Millionenfrage geschafft. Er zog es aber vor, mit den bereits sicheren 300.000 Euro nach Hause zu gehen. Gesprächsthema des Tages danach: 'Hätten Sie die knifflige Millionenfrage gewusst?' (…).

Der Aufmacher eines Gratis-Boulevard-Blatts über 'Wilde Gerüchte um Mitter­lehner-Abgang' wurde so von vielen nur gelangweilt überblättert. Zu Recht, zumal das von Anfang an nicht mehr war als ein Latrinengerücht.

Sicher ist, dass es direkt aus der Regierung in die Welt gesetzt wurde. Das macht sichtbar, dass man sich in dieser Koalitionsehe nichts mehr als Bösartigkeiten zu sagen hat."
(vollständiger Leitartikel online [dort datiert mit 9. Mai 2017, 18.30 Uhr]:

Pikant wird die Angelegenheit, wenn man die zwei Sätze im Fettdruck den realen politischen Ereignissen gegenüberstellt: Am 10. Mai erschien die in Rede stehende Kurier-Ausgabe, und am selben Tag verkündete Reinhold Mitter­leh­ner in den Mittagsstunden seinen Rücktritt als Minister, Vizekanzler und ÖVP-Parteichef!

Josef Votzi ist immerhin Chef des Politik-Ressorts im "Kurier". Dass gerade so jemand von dem Ereignis überrascht wurde, könnte dennoch als entschuldbar durch­gehen, wenn man die unklare und turbulente politische Situation der vorausgegangenen Tage und Stunden berücksichtigt.

Völlig blamabel wird die Sache allerdings dann, wenn besagter Redakteur glattweg behauptet, der mögliche Politiker-Abgang wäre "von Anfang an nicht mehr (…) als ein Latrinengerücht gewesen" – und dieser Abgang nur wenige Stunden später Wirklichkeit wird. Da liegt eine derartige Diskrepanz zwischen journalistischer Aussage und Realität vor, dass der Journalist jede Glaubwürdigkeit verspielt hat.

Hintergrund von Votzis Latrinengerüchte-Äußerung war offenbar das Bestreben, in seinen Text eine Breitseite gegen die Gratis-Zeitungen einzubauen (was in den Kurier-Leitartikeln immer wieder passiert – vorzugsweise dann, wenn sie der Chefredakteur Helmut Brandstätter verfasst). Aber wie auch immer man den Gratis-Zeitungen gegenüberstehen mag (ich persönlich sicherlich nicht positiv) – in diesem Fall ist eindeutig zu konstatieren: Jenes Blatt, das auf seiner Titelseite behauptete, es gäbe "Wilde Gerüchte um Mitterlehner-Abgang" (nämlich die Zeitung "Heute" in ihrer Ausgabe vom 9. Mai 2017), war weitaus näher bei der Wahrheit als Votzi mit seiner Unterstellung, dass es sich dabei (noch dazu "von Anfang an") nur um ein Latrinengerücht gehandelt hätte.

Das allein spricht ja schon Bände über die Zuverlässigkeit und Glaub­würdigkeit des vermeintlichen Qualitätsjournalismus. Die ganze Angele­gen­heit erfährt aber noch eine bemerkenswerte Steigerung.

3. Die Redaktion weiß mehr (oder: Votzi versus Kittner):

Am nächsten Tag – also am Donnerstag, dem 11. Mai 2017 – war der Mitterlehner-Rücktritt natürlich das innenpolitische Hauptthema in allen Zeitungen. Im Kurier schrieb kurioserweise schon wieder Josef Votzi den Leitartikel dazu – und natürlich wieder voll mit journalistischen Besser­wissereien. Ganz so, als ob es seine Latrinengerüchte-Fehldiagnose in der Ausgabe vom Vortag nicht gegeben hätte.

Noch befremdlicher ist aber etwas Anderes: Gleichfalls im Kurier vom 11. Mai 2017 gibt es auf Seite 3 einen ausführlichen Artikel der Redakteurin Daniela Kittner. Wenn man diesen Artikel liest (und sein Inhalt der Wahrheit entsprechen sollte), so ist eines eindeutig: Dass ein Rücktritt Mitterlehners in nächster Zeit stattfinden könnte, war Kurier-intern seit etwa einer Woche bekannt und somit alles andere als ein bloßes "Latrinengerücht".

Wenn Votzi dennoch in seinem Leitartikel vom 10. Mai diesen Ausdruck verwendete, so kann dies nur zwei Ursachen haben: entweder er war völlig von jenen Informationen abgeschnitten, die der (übrigen) Kurier-Redaktion vorlagen (was klarerweise auszuschließen ist) – oder er hat bewusst die Unwahr­heit geschrieben, als er meinte, der mögliche Rücktritt Mitterlehners sei "von Anfang an nicht mehr (…) als ein Latrinengerücht" gewesen.

Daniela Kittners Artikel vom 11. Mai 2017 erschien in der Kolumne "Politik von innen" und trägt die Überschrift:

"Die Dramatik um Mitterlehners Abgang
Rückzug des ÖVP-Chefs stand seit Tagen fest, Kanzler Kern war vor­infor­miert"

Ich zitiere daraus nur einige markante Stellen:

"Der Anruf erreichte den KURIER am vergangenen Donnerstag [Anm.: also am 4. Mai] um 14.35 Uhr. Am Telefon war Vizekanzler Reinhold Mitter­lehner. Der ÖVP-Chef wollte eine brisante Botschaft absetzen, aber nicht explizit on records gehen. […]

Der Inhalt des Gesprächs war Basis für die KURIER-Story am Sonntag [Anm.: 7. Mai]: 'Mitterlehner droht mit Konsequenzen. ÖVP-Chef will keine Neuwahlen herbeiführen: Übergibt er an Sebastian Kurz?' [Anm.: so der Originaltext vom Sonntag; im Kittner-Artikel wird der zweite Satz nicht wortgetreu zitiert]

Später an diesem Donnerstag besuchte Mitterlehner das Trend-Editors Dinner, danach ging er mit Freunden auf ein Glas Wein. Zu diesem Zeitpunkt hatte Mitterlehner längst beschlossen, aus der Politik auszusteigen. […]

Offen waren zu diesem Zeitpunkt nur die genauen Modalitäten des Rück­zugs. Die Gerüchteküche will wissen, Mitterlehner habe überlegt, seine geplante Rede 'Zur Lage der Nation' am 15. Mai für die Rücktrittserklärung zu nutzen. Doch das hätte einen Eklat bedeutet, [...]

[…]"

Nach "Latrinengerücht" klingt das alles ganz und gar nicht.

Und da will uns Herr Votzi einreden, das Redaktionsgeschehen wäre für die Leser/innen nicht von Interesse! Das Gegenteil ist wahr. Wenn man nur Einblick hätte in das, was so hinter den Kulissen läuft … Man wüsste dann vielleicht, wie es dazu kam, dass er uns etwas als bloßes Latri­nen­gerücht verkauft hat, obwohl der Kurier-Redaktion bereits seit Tagen dezidiert bekannt war, dass das betreffende Ereignis jedenfalls im Raum stand.