Wie eifrig der Kapitalismus daran arbeitet, die Menschen allumfassend –
nämlich bald von der Wiege bis zur Bahre – in die Klauen der Wirtschaft
zu bekommen, wird (erschreckend) deutlich, wenn man zwei Kommentare der
famosen stellvertretenden Kurier-Chefredakteurin Martina Salomon in
Kombination betrachtet:
Am 1. August begeisterte sie sich für die Idee, junge Leute, die
sich frecherweise für ein der Wirtschaft nicht genehmes Studium
entscheiden, mit höheren Studiengebühren zu belasten, sprich: zu
bestrafen. (Das habe ich in diesem Blogeintrag kritisiert: Weh dem, der das "Falsche" studiert ...)
In einem Kurier-Artikel vom vergangenen Samstag (7. September 2013)
begibt sich Salomon jetzt gleichsam an das andere Ende jenes
Lebensabschnitts, der (bei den meisten) durch eine Ausbildung bzw.
Erwerbstätigkeit gekennzeichnet ist – also in die Zeit des
Pensionsantritts. Es gilt ja schließlich auch den Alten bzw. "Älteren"
journalistisch klarzumachen, dass sie gefälligst weiterhin den
Interessen des kapitalistischen Systems zu dienen haben. Wohlgemerkt
nicht nur als Konsumenten (das ja sowieso), sondern auch als
Arbeitskraft – bzw. präziser gesagt: indem sie alles tun, um nicht
unverschämterweise als Pensionsempfänger der Allgemeinheit auf der
Tasche zu liegen.
Demgemäß stellt Salomon im Untertitel ihres Beitrags sehnsüchtig die Frage:
"Wo sind Alternativen zur (Früh-)Pension?"
Man beachte schon mal, wie schlau der Wortteil "Früh-"
in Klammer gesetzt wurde. Natürlich mit gutem Grund: Salomon geht es
nämlich keineswegs "nur" um die Verringerung der Anzahl der
Frühpensionisten. Sie schreibt ja sogar selbst, dass (rechtlich) "(d)er Gang in die Frühpension (inklusive Invaliditäts- und Hacklerpension) (…) Drehung um Drehung erschwert (wird)".
In diesem Bereich ist also offenbar auch für gestandene Neoliberale
kaum mehr Spielraum zur Ausquetschung von Menschenmaterial vorhanden.
Nächstes Angriffsziel ist daher das reguläre Pensionsalter (also bei
Männern 65 und bei Frauen – derzeit noch – 60 Jahre).
Salomons diesbezüglicher Vorstoß gipfelt in der unverschämten und provokanten Frage:
"Und warum sollte mit 60 oder 65 endgültig Schluss sein?"
Darauf ließen sich viele Antworten geben. Jene, die aber vielleicht
am besten die Unverschämtheit von Salomons Frage belegt, ist folgendes
Zitat einer Aussage des griechischen Journalisten, Schriftstellers und
früheren Inhabers einer Werbeagentur, Nikos Dimou (der übrigens
keineswegs ein "Linker" ist):
"Innerhalb
von 2 Jahren war mein Neffe einer der zehntausend Microsoft-Millionäre.
Innerhalb von 15 Jahren, nachdem er ein Vielfaches dessen verdient
hatte wie ich in 50 [Jahren], zog er sich zurück und beschäftigt sich in
Vollzeit mit seinem Hobby – der Gravierkunst."
(Näheres zu dem Zitat in diesem früheren Blogeintrag von mir:
http://enalexiko.blogspot.co.at/2012/08/arbeiten.html)
Solange es ein System gibt, das Derartiges ermöglicht, und solange man
– wie Frau Salomon – nicht müde wird, dieses System permanent zu loben
und zu verteidigen, ist es eine menschenverachtende Unverfrorenheit, die
oben zitierte Frage zu stellen.
Sie hätte ja in Anbetracht der
himmelschreienden Ungerechtigkeit, die der Kapitalismus verursacht,
geradezu umgekehrt zu lauten: "Warum darf für die Masse erst mit 60 oder 65 Schluss sein, wenn im System Geld genug dafür vorhanden ist, dass andere nach 2 Jahren Millionär sind?"
Aber ich verkenne ja, dass Frau Salomon mit ihrem Vorstoß für ein
höheres Pensionsantrittsalter ganz hehre Absichten hegt: Sie will die
älteren Menschen ja nur deshalb möglichst lange im Erwerbsprozess
halten, um sie vor dem Pensionsschock zu bewahren. Dazu zitiert sie den
Sprecher einer Plattform "seniors4success" (allein schon der lächerliche Name der Plattform verheißt Ungutes); der Sprecher soll gesagt haben:
"«Arbeit ist nicht Hölle und Pension ist nicht Paradies.» […] Freizeit ohne Herausforderung bringe keine Erfüllung, beim Übergang in die Rente könne man durchaus in ein «schwarzes Loch» fallen."
Von Frau Salomon wird das bereitwillig mit einem "Stimmt" qualifiziert. Ihres Erachtens rege sich damit
"(h)ierzulande (…) langsam Widerstand gegen das Modell, Menschen für ein Vierteljahrhundert in den «Ruhestand» zu schicken".
George Orwell's "1984" lässt grüßen. Wenn das nicht "Newspeak" in bestem Sinne ist:
Die Menschen freuen sich nicht mehr auf die Pension (bzw. sollen sie
das propagandagemäß nicht mehr tun), sondern im Gegenteil: Sie sollen
aufbegehren dagegen, dass sie nicht mehr im Hamsterrad mitlaufen können.
Der Weg in die Pension wird nicht etwa als ein positives Ereignis
verstanden, auf das man rechtlich wie moralisch Anspruch hat, sondern
als eine Art gesetzlich oktroyierte Zwangsmaßnahme. Schon das Wort "Ruhestand"
ist für Neoliberale wie Salomon obszön und wird daher unter
Anführungszeichen gesetzt; und man "geht" auch nicht in den Ruhestand,
sondern man wird "geschickt" (also gleichsam dazu gezwungen).
Dagegen sei aus Sicht Salomons (und anscheinend auch der Plattform der
ewig jungen und erfolgreichen Senioren) Widerstand (!) zu erheben.
Und die Zeit nach dem Pensionsantritt ist nicht etwa ein
Lebensabschnitt der Muße, der Entspannung oder der Pflege irgendwelcher
Hobbys, für deren Ausübung man jahrzehntelang im Hamsterrad kaum oder
gar nicht Gelegenheit hatte. Nein, das ist die Zeit, in der man
"durchaus" in ein schwarzes Loch fallen könne.
Das getraut
sich Frau Salomon allen Ernstes zu schreiben, obwohl sie genau weiß,
dass immer mehr Menschen dem Leistungsdruck und der Ausbeutung im
Berufsleben nicht länger standhalten und heilfroh wären, wenn sie ihm
entrinnen könnten. Anders gesagt: Ein Burn-out (oder auch "nur" ein
Bedürfnis nach Ruhe) als Folge der Berufsausübung ist sicher das weitaus
häufigere und damit realistischere Szenario als der Sturz ins schwarze
Loch aufgrund der Pensionierung. Das wird vom Propagandajournalismus
aber nicht nur ignoriert (was schon schlimm genug wäre); es wird von ihm
vielmehr argumentativ alles skrupellos auf den Kopf gestellt, in sein
Gegenteil verkehrt.
Aber selbst wenn man sich der
Überlegung des von Salomon zitierten Superseniors anschließt, wonach
Freizeit ohne Herausforderung keine Erfüllung bringe (und Pensionisten
Gefahr liefen, in diese unbefriedigende Situation zu geraten), so wäre
das nur ein Beleg dafür, wie sehr da bei den Betroffenen etwas in den
vorangegangenen Jahren ihrer Berufstätigkeit schief gelaufen sein muss:
Offenbar war in diesen Jahren keine Zeit, keine Kraft, kein Interesse
oder keine Muße dafür vorhanden, an einer Aktivität abseits der
Berufsausübung Freude zu finden bzw. eine solche Aktivität zu
praktizieren (und damit rechtzeitig etwas Sinnstiftendes für die Zeit
nach dem Pensionsantritt zu entwickeln). Traurig für die Betroffenen,
und eine Schande für unsere schöne neue Berufswelt. Menschen motivieren
oder sie gar durch gesetzliche Regelungen verpflichten zu wollen, in
diesem Zustand noch weiter zu verharren, ist (nebst allen anderen
negativen Charakteristika) schlichtweg pervers.
Bezeichnend ist
auch, was Frau Salomon so als Beschäftigungstherapie zur Vermeidung des
furchtbaren Pensionsschocks der 60- bis 65-Jährigen im Auge hat:
"Der deutsche Versandhändler «Otto» hat einen Pool von Pensionisten, die bei Bedarf eingesetzt werden."
Hmmm, "bei Bedarf" von einem Versandhändler "eingesetzt" werden ...
(Wozu eigentlich: Packerl schnüren? Packerl schlichten?) Also da ist mir
das "schwarze Loch" immer noch lieber. Und wenn es mir darin zu finster
wird, klettere ich hinaus und beginne mit der Gravierkunst.