Freitag, 5. Februar 2016

Österreich und die Flüchtlinge

"Angst haben" und "überfordert sein": Das sind zwei Befindlichkeiten, die in unserer Gesellschaft üblicherweise strikt verpönt sind – insbesondere natürlich im Wirtschafts- und Berufsleben, aber auch im privaten Bereich (dort zeigt sich ja ebenfalls immer mehr ein perverser Trend, an die eigenen Grenzen zu gehen, etwa durch das Betreiben von Extremsportarten). 
 
Paradoxerweise ist es im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage genau umgekehrt: Spätestens seit dem Flüchtlingsstrom vom vergangenen Herbst ist es geradezu schick, Angst vor den (nicht-touristischen) Fremden zu haben und sich durch sie überfordert zu fühlen. Diese (durchwegs geheuchelten) Empfindungen werden inzwischen geradezu demonstrativ zur Schau gestellt.

Nun greift die offizielle Regierungspolitik von SPÖ und ÖVP dieses unerfreuliche Phänomen – wenn auch mit etwas Verspätung – in populistischer Manier auf. (Wenn der Begriff Populismus seine Berechtigung hat, dann bei diesem Thema: Die dumpfen Empfindungen der einheimischen Bevölkerung werden auch von der Regierung zum Maß aller Dinge erhoben. [Bei der FPÖ ist das ja ohnedies schon längst Markenzeichen.])

Was ich soeben abstrakt beschrieben habe, lässt sich durch die am 20. Jänner 2016 vorgestellte Festlegung einer Obergrenze (bzw. eines Richtwertes) für Flüchtlinge erschreckend deutlich konkretisieren:

Laut der ORF-Nachrichtensendung "Zeit im Bild" vom 20. Jänner plant die Regierung in den kommenden Jahren nur mehr folgende Zahl an Asylwerbern nach Österreich zu  lassen (oder nur mehr eine entsprechende Zahl an Asylanträgen zu bearbeiten – was genau gemeint war bzw. geschehen soll, blieb offen):

2016: 37.500
2017: 35.000
2018: 30.000
2019: 25.000

Insgesamt sollen demnach – so die "Zeit im Bild" – bis Mitte 2019 "inklusive Familiennachzug nur noch 127.500 neue Asylwerber nach Österreich kommen". Das entspreche rund 1,5% der Bevölkerung.

Die gleichfalls in der Sendung präsentierten Zahlen der in den letzten Jahren in Österreich gestellten Asylanträge lauten:

2012: 17.413
2013: 17.503
2014: 28.064
2015: 90.000

Der ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner erklärte auch deutlich, wozu die Festlegung von Obergrenzen/Richtwerten diene:

"um einerseits die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu wahren, um andererseits – das ist aber eine ganz wichtige Komponente – auch den Druck auf die EU zu erhöhen."

Das ist die populistische – und insofern geradezu ehrliche – Begründung der Maßnahme: die diffusen "Interessen der Bürgerinnen und Bürger".  Im Klartext hätte Mitterlehner auch sagen können: "um der aus­ge­prägten Fremdenfeindlichkeit der einheimischen Bevölkerung Rechnung zu tragen". 

(Ebenso schäbig ist die Intention der Druckerhöhung auf die EU: Wie sich durch spätere Erklärungen Mitterlehners herausstellte, meinte er damit nicht etwa einen Druck zur Aufnahme von mehr Flüchtlingen durch andere EU-Länder [was ohnehin eine naive Vorstellung gewesen wäre], sondern geradezu das Gegenteil: den sogenannten Dominoeffekt, wonach die Balkanländer [darunter natürlich auch die Nicht-EU-Länder Serbien und Mazedonien] zurück bis einschließlich Griechenland veranlasst werden sollen, analog zu Österreich auch für ihre Staatsgebiete die Einreise von Flüchtlingen nach Möglichkeit zu beschränken bzw. überhaupt zu verhindern.)

Ergänzend dazu präsentierte der Salzburger Landeshauptmann Haslauer die geheuchelte Hilflosigkeit als weiteres Argument:

"Es gibt eine gemeinsame Einschätzung, die lag zugrunde, dass wir noch einmal so ein Jahr wie 2015 nicht bewältigen können."

In der "Zeit im Bild 2" – gleichfalls vom 20. Jänner – hört man (nochmals) Mitterlehner, wie er in analoger Weise behauptet:

"Wir haben bei dem Flüchtlingsthema eine Entwicklung, die als dynamisch-dramatisch zu bezeichnen ist. Die große Anzahl von Flüchtlingen überfordert unser System."

In ähnlicher Manier äußerten sich unter anderem die Innenministerin (Johanna Mikl-Leitner, ÖVP) und der stramm rechtspopulistische Landeshauptmann des Burgenlandes, Hans Niessl – ein Mitglied der SPÖ, also jener Partei, die nach wie vor wie zum Hohn das Adjektiv "sozialdemokratisch" in ihrem Namen trägt. Er war am 24. Jänner in der Diskussionssendung "Im Zentrum" auf ORF 2 zu Gast. Auf die Frage, ob es ihm nichts ausmache, dass bei der SPÖ auch innerparteilich Kritik am Beschluss der Bundesregierung geäußert worden sei, meinte Niessl: 

"Ich bekomme von der Bevölkerung zwischen 80 und 90 Prozent Zustimmung. Das kann ich Ihnen dokumentieren. Ich kann Ihnen alle positiven E-Mails auch bringen, dass dieser Standpunkt für Viele in Österreich der richtige ist. Man hat vielleicht das eine oder andere zu spät gemacht, aber wenn ich so eine große Zustimmung habe, dann macht es mir nichts aus, wenn manche Andere dagegen sind."

Und so wenig den Worten eines Politikers (egal welcher Partei) auch zu trauen ist – in diesem Fall kann man Niessl getrost glauben, dass er die Wahrheit spricht: sowohl, was die 80 bis 90% Zustimmung der Bevölkerung betrifft; und erst recht, was seine Gleichgültigkeit gegenüber den (spärlichen) kritischen Stimmen betrifft.

Österreich hat durchaus die Politiker/innen, die dieses Land verdient und die das Volk und dessen Untugenden zuverlässig vertreten! Die Flüchtlingsfrage zeigt das – insbesondere mit dem Obergrenzen-/Richtwert-Beschluss – ganz besonders deutlich. 

Wie sehr dieses bedauernswerte, verängstigte und besorgte Volk tatsächlich unter der Last der Flüchtlinge leidet, dokumentiert die Statistik über die Unterbringung von Flüchtlingen in den einzelnen Gemeinden. So sieht die grafische Darstellung aus (gezeigt in der "Zeit im Bild 2" vom 20.1.2016):



Dazu die Erläuterungen des Sendungsmoderators Armin Wolf:

"Von den 2100 Gemeinden in Österreich haben 799 Gemeinden – oder 38 Prozent – noch keinen einzigen Asylwerber aufgenommen – in unserer Karte gelb eingefärbt. Die 1301 grün gefärbten Gemeinden – das sind 62 Prozent – haben Asylwerber unter­ge­bracht. Das ist immerhin fast eine Verdoppelung im letzten halben Jahr. Aber nur 317 Gemeinden, also 15 Prozent, das sind die dunkelgrünen, erfüllen die vorgesehene Quote von 1,5 Prozent Flüchtlingen auf die Einwohnerzahl."

Bei diesen Zahlen muss man tatsächlich Angst haben. Aber nicht vor den Flüchtlingen, sondern vor der Unmenschlichkeit und Schäbigkeit eines überwiegenden Teils der einheimischen Bevölkerung. Deren Einstellung ist es ja, die zu solch skandalösen Defiziten bei der Realisierung der ohnedies schon lächerlich niedrigen Quote von 1,5% der Einwohnerzahl führt.

Der Bürgermeister der burgenländischen Gemeinde Nickelsdorf, Gerhard Zapfl, schilderte in einer Fernsehdiskussion am 20. Jänner ("Runder Tisch") Folgendes:

"Ich kann Ihnen ein Beispiel aus meiner Gemeinde Nickelsdorf sagen. Wir haben seit Sommer letzten Jahres 25 [Asylwerber] (mittlerweile 29 – eine Familie kommt noch nach) [und damit] rund 2% [der Einwohnerzahl] an Asylwerbern bei uns untergebracht. Wir haben diese Asylwerber bei uns gut integriert (die haben mitgeholfen, auch bei dem großen Flüchtlingsstrom). Jetzt gab's ein Projekt eines Privaten, zusätzliche 35 minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Es gab einen Widerstand der Bevölkerung. Das heißt, dieses Projekt kann nicht realisiert werden, ansonsten wäre bei uns der Friede gefährdet."

35 (zusätzliche) Flüchtlinge – und der Friede in der Gemeinde wäre gefährdet! Allein damit weiß man, was vom Großteil der dortigen Bevölkerung zu halten ist. Und natürlich nicht nur von der dortigen –  Nickelsdorf ist ja sozusagen überall in diesem Land. An vielen anderen Orten sogar in noch schlimmerer Form; denn in Nickelsdorf haben sie laut Bürgermeister mit den bisherigen 29 Flüchtlingen wenigstens die 1,5%-Quote erfüllt. 85% aller Gemeinden haben laut obiger Statistik noch nicht einmal das getan! (Und dass das "Volksempfinden" in der Flüchtlingsfrage in anderen Ländern mindestens ebenso widerwärtig ist wie hier – siehe Ungarn, Polen usw. – gehört auch erwähnt und kritisiert, mildert aber in keiner Weise die heimische Niedertracht.) 

Der SPÖ-Bürgermeister begrüßt jedenfalls – auch er in bester populisti­scher Manier – erwartungsgemäß die oben genannten Pläne der Bundes­regierung. Er meint:

"Also der Schritt, dass hier eine Beschränkung angedacht ist – dass man hier von einer Reduktion der Flüchtlinge spricht –, ist sicher der richtige. Ich spüre das auch in der Bevölkerung, in meiner Gemeinde, dass die Menschen sich Sorgen machen, dass wir an der Toleranzgrenze des Möglichen sind."

Laut Homepage der Gemeinde hatte Nickelsdorf mit Stand 1.1.2012 1643 Einwohner. (Lt. Wikipedia waren es am 1.1.2016 1754.) Jedenfalls mehr als 1600 Menschen wären also mit 29 plus 35 Flüchtlingen konfrontiert. Das entspräche einer Personenzahl von nicht einmal 3 Schulklassen! Mehr als 1600 Menschen (oder jedenfalls viele von ihnen) würden also nicht die Anwesenheit dieser im Verhältnis winzigen Zahl von Personen ertragen, deren "Makel" einzig und allein darin besteht, dass sie Fremde sind und dass sie nicht als zahlende Gäste in den Ort gekommen sind bzw. kommen würden. (Als Touristen wären sie natürlich heftig umworben.)

1600 zu 29 plus 35! So sieht bei den Einheimischen die "Toleranzgrenze des Möglichen" aus, von welcher der Bürgermeister im Fernsehen zu reden wagt, ohne sich dafür in Grund und Boden zu genieren!