Donnerstag, 19. Juni 2014

Freiheit – für wen und wovon? (Teil 1 – So klingt es in der Zeitung)

Am 14. Juni 2014 verfasste der Chefredakteur des "Kurier", Helmut Brandstätter, auf Seite 2 der Zeitung einen Leitartikel mit der Überschrift

"Die Freiheit – eine unterschätzte Lust"

und dem Untertitel

"Vieles hat in Österreich Tradition. Das Verlangen nach Selbstbestimmung gehörte leider nie dazu."

Ja, Recht hat er damit! Allerdings in einem komplett anderen Sinn, als er in seinem Artikel den Leser/innen weiszumachen versucht.

Brandstätter hängt – klarerweise (sonst wäre er nicht Kurier-Chefredakteur) – der längst überholten und zum Klischee gewordenen Vorstellung an, der Staat (wohlgemerkt in seiner westlich-demokratisch-rechtsstaatlichen Ausprägung!) beschränke die Freiheit der Menschen.

Der Mann verkennt die Zeit: Wir leben nicht mehr im Österreich des Jahres 1848 oder in der "Ostmark" der Jahre 1938 bis 1945. Oder er verkennt den Ort: Österreich ist nicht Nordkorea, ja nicht einmal Russland. In diese zeitlichen bzw. geographischen Bereiche passt seine Kritik am Staat als vermeintlichem Beschränker der Freiheit hinein. Aber sicher nicht ins Österreich des Jahres 2014. (Wenn wir von einigen unerfreulichen Details absehen, wie der – von der Bevölkerung brav abgesegneten – Wehrpflicht für Männer; aber um solche Fragen geht es Brandstätter ja nicht.)

Sehen wir uns an, worin Brandstätter die Einschränkung der Freiheit zu erkennen glaubt (bzw. das jedenfalls behauptet):

Er beginnt seinen Leitartikel mit der folgenden (auf die Steuerdebatte bezogenenen) Aussage: 

"Die beiden Regierungsparteien [= SPÖ und ÖVP] sind, wie auch FPÖ und Grüne, grundsätzlich der Meinung, dass der Staat das Geld der Steuerzahler besser verwaltet, als diese es könnten."

Damit sind wir also gleich von Anfang an bei jenem Element, das im Kosmos eines (Neo-)Liberalen die zentrale Stellung einnimmt: beim Geld.

Der zitierte Satz (bzw. das, was er den genannten Parteien als deren Meinung unterstellt) ist für sich genommen natürlich schon mal Unsinn: Der Staat hat Funktionen wahrzunehmen, durch die den Interessen der Allgemeinheit gedient werden soll (angefangen mit dem Betrieb von Spitälern und Schulen über den Bau und Erhalt von Straßen bis zur Gewährleistung eines funktionierenden Justizwesens und vielen anderen Dingen). Dass diese Angele­genheiten Geld kosten, ist unbestritten. Also muss sich der Staat dieses auch beschaffen – und das geschieht eben nun mal durch die von Brand­stätter & Co. hartnäckig als Übel dargestellten Steuern (bzw. sonstigen Abgaben). Es geht also nicht darum, ob es der Staat oder der Steuerzahler ist, der Geld besser verwaltet. Jeder verwaltet jenes Geld, das ihm für seine Belange zur Verfügung steht. Ebenso wenig wie ich mir erwarten kann, dass mir der Staat eine Urlaubsreise oder ein Auto finanziert, werde ich aus eigener Tasche die Kosten für den Schulbesuch der Kinder von nebenan oder die Blinddarmoperation des Nachbarn bezahlen. Öffentliche und private Finanzen sind eben zweierlei. Daran ändert auch ein allenfalls unzulänglicher Umgang mit den jeweiligen Geldern nichts.

Man mag mit Fug und Recht kritisieren, dass der Staat (verkörpert durch die Regierung oder andere Institutionen) schlecht wirtschafte; aber daraus (indirekt) die Forderung abzuleiten, man müsse ihm aus diesem Grund Mittel entziehen (sprich: die Steuern und Abgaben senken) und sie dem Einzelnen überlassen, weil der mit dem Geld (ver­meint­lich) besser umgehen könne als die öffentliche Hand – das ist völlig unlogisch und/oder sozial verantwortungslos: weil es darauf hinausläuft, dass der Staat gleichsam ausge­hungert wird und in Zukunft nur mehr die Reichen grundlegende Infra­struk­tur­leistungen in Anspruch nehmen können, die sie sich am viel gepriesenen privaten Markt beschaffen und dann tatsächlich aus ihrer eigenen Tasche bezahlen: Die Kinder kommen in die Privatschule, die Gesundheitsversorgung holt man sich bei Privatärzten bzw. in Privat­kliniken, und für die Sicherheit sorgen private Leibwächter. Der Trend zum Abbau öffentlicher – und damit auch für weniger begüterte Personen verfügbarer – Leistungen läuft heutzutage unter verlo­ge­nen Schlagworten wie "Selbst­ver­antwortung" und "Mündigkeit des Bürgers".

Erwähnenswert ist nebenbei, dass Brandstätter gleich vier von derzeit sechs im Parlament vertretenen Parteien seinen eigenen logischen Unfug des "Wer-verwaltet-das-Geld-besser?" unterstellt. Ausgenommen hat er nur die Neos und das "Team Stronach", also jene zwei Parteien, die am extremsten wirtschaftsliberal ausgerichtet sind. Auch daran ist schon zu ersehen, welche Art von "Freiheit" Brandstätter meint.

Er setzt dann nahtlos folgendermaßen fort:

"Also erfanden Regierungen immer neue Gesetze zur Verwaltung des Menschen und die dazugehörige – teure – Umsetzung."

Das ist gleichsam Staatsbürgerkunde (oder soll man sagen: Staatsbürger­verdum­mung?), wie sie durch eine der größten österreichischen Tageszeitungen betrieben wird: Regierungen erfinden – so Brandstätters abenteuerliche Argumentation – deshalb immer neue Gesetze, weil die meisten politischen Parteien der Meinung seien, der Staat könne Geld besser verwalten als die Steuerzahler und er (der Staat) daher die Menschen (eben mittels dieser Gesetze) verwalten zu müssen glaube.

Wenn das nicht der klassische Fall einer Verschwörungstheorie ist: Böse Mächte (genannt Regierungen) haben es darauf angelegt, den tüchtigen Bürgern ihr Geld abzuknöpfen und dann durch das Ersinnen einer Unzahl von Vorschriften diese bedauernswerten Menschen unter Kuratel zu stellen.

Man muss sich das mal vorstellen: Brandstätter ist laut Wikipedia promovierter Jurist! Welche Funktion den Normen (also Gesetzen, Verordnungen usw.) in einem Rechtsstaat zukommt, hat er entweder im Laufe seines Studiums nicht gelernt oder es zwischenzeitig vergessen, oder er ignoriert es. Ich unterstelle Letzeres. Denn ich gehe davon aus, dass ihm Folgendes bekannt ist:

Ebenso wie es zur Erfüllung kollektiver Aufgaben kollektiver finanzieller Mittel bedarf (siehe oben), so sind zu einem geordneten Zusammenleben von Menschen gewisse Regeln erforderlich. Ein entsprechendes Regelwerk stellen in einem Rechtsstaat insbesondere die Gesetze (plus Verordnungen etc.) dar. Dass ein tendenziell immer komplizierter werdendes – und jedenfalls ständig sich änderndes – Leben und Zusam­men­leben zusätzliche Regelungen erforderlich macht, sollte eigentlich einleuchten. Und soweit Gesetze die "Verwal­tung des Menschen" bewirken, dient das dazu, entweder die Rechte und Freiheiten anderer Per­sonen oder das Funktionieren des Staates im Interes­se der Allgemeinheit zu gewähr­leisten.

So simpel und logisch ist das. Und wenn man es dergestalt betrachtet, kann man dem gang und gäbe gewordenen Gejammer über die den Menschen angeblich seiner Mündigkeit beraubenden Vorschriften geradezu eine böse Absicht unterstellen, nämlich diese: Durch weniger Gesetze soll einerseits der Staat geschwächt werden (gleichsam das juristische Gegenstück zur finanziellen Aushungerung), und bei den Menschen untereinander soll das Recht des Stärkeren (sprich: des Reicheren bzw. wirtschaftlich Mächtigeren, des Egoistischeren und des Rücksichtsloseren) die Oberhand gewinnen. Auch dafür gibt es in unserer Zeit schöne manipulative Schlagworte: "Deregulierung", "Entfesselung der Wirtschaft" usw.

Brandstätter nennt auch konkrete Beispiele, was ihn denn stört:

"Da eine neue Zulage, dort eine höhere Pendlerpauschale, da neue Schutzbe­stim­mungen, dort neue Fördermodelle."

Also alles Belange, die typischerweise keinen Wohlhabenden zugutekommen werden. Man beachte insbesondere, dass Brandstätter auch die Schutzbestimmungen ein Dorn im Auge sind. Das ist aber auch kein Wunder in einer Gesellschaft wie der österreichi­schen, in der zum Beispiel gegen Rauchverbote in der Gastwirtschaft mit dem Argument Stim­mung gemacht wird, dass damit die Freiheit der Gastronomen eingeschränkt werde (da ist es schon wieder, das Wort "Freiheit"), während der Schutz der in den Lokalen arbeitenden Personen vor Zigarettenqualm als unbeachtlich abgetan wird bzw. meistens nicht einmal Erwähnung findet.

Ich will Brandstätter nicht unterstellen, dass auch er in der Rauchverbotsfrage so denkt (will es jedoch auch keinesfalls ausschließen!). Aber das Beispiel zeigt sehr schön, worauf es hinausläuft, wenn man Schutzbestimmungen gegen Freiheit auszuspielen versucht.

Brandstätter schreibt weiter:

"Der Erfindungsreichtum, den die Parteien und die ihr zugehörigen Interessens­vertre­tungen (mit Zwangsbeiträgen) entwickelten, ist beachtlich. An die Freiheit des Einzel­nen, sein Leben zu gestalten, denkt kaum jemand."

Vor allem nicht die Unternehmer/Arbeitgeber. Die sind nämlich in einem kapitalistisch-demokratischen System die Hauptursache dafür, dass der Einzelne kaum die Freiheit hat, sein Leben zu gestalten. Dem Staat ist dabei insofern eine (beträchtliche) Mitverantwortung anzulasten, als er deren Interessen viel zu sehr und den Einzelnen (sprich: den Arbeitgeber bzw. den sozial Benachteiligten) viel zu wenig schützt. Aber gerade das meint Brandstätter ja (leider) nicht, wenn er den Staat kritisiert. Und die Zwangsbeiträge mögen (für manche) eine finanzielle Lästigkeit sein; aber eine solche Lappalie ernsthaft als Indikator für Freiheit bzw. Unfreiheit ins Spiel zu bringen, ist lächerlich.

Im zweiten Teil seines Leitartikels erweitert Brandstätter für eine Weile seine Sicht der Freiheit. Von Steuern und sonstigen monetären Foltern geht er über zum "klassischen Liberalismus" und nennt als Beispiele: "Bürgerrechte, Schutz des Individuums oder die Freiheit der Berufsausübung". Solche Themen seien (in Österreich) "seit jeher unter­belichtet".

In diesem Zusammenhang nennt er drei Vorwürfe:

"Der Staat sorgt vor, also darf er auch überwachen."

Das stimmt vielleicht als historische Reminiszenz, etwa an das frühe 19. Jahrhundert (Metter­nich'scher Überwachungsstaat usw.). Als Kritik am heutigen Staat ist es eine unbewie­sene Behauptung. (Daran ändert auch nichts die zur Mode gewordene Hysterie über die Vorrats­datenspeicherung oder über befürchtete Lauschangriffe auf das Tele­fonat mit der Poldi-Tante.) Die ganz reale Über­wachung kommt vielmehr von den Unter­nehmen, die etwa über Kundenkarten das Kaufverhalten der Konsumenten erfassen; und vor allem von den Arbeit­gebern, indem diese zum Beispiel kontrollieren, ob der Beschäftigte auf die Minute pünktlich seinen Dienst antritt und keine Minute länger als vorgesehen die Toilette aufsucht.

Oder indem ein Kellner gefeuert wird, weil er von ihm selbst mitge­brach­te Erdbeeren mit ein paar Gramm Zucker aus dem Bestand des Restaurants gesüßt hat. (Passiert bekanntlich in einem der Lokale eines angesehenen Gastronomen namens Plachutta.) An die Öffentlichkeit gebracht hat diesen Skandal übrigens ... die Arbeiter­kammer! Also eine jener "Interessens­vertretungen (mit Zwangsbeiträgen)", die das Missfallen Brand­stätters erregen. Womit sich so nebenbei einmal mehr vortrefflich zeigt, wessen Anliegen der Chefredakteur einer privaten Zeitung im Auge hat, wenn er im Namen der Freiheit gegen den Staat und gegen öffentliche Einrichtungen zu Felde zieht. Arbeit­nehmer, die der Willkür ihrer Chefs ausgeliefert sind, gehören sicherlich nicht dazu.

Der nächste Vorwurf:

"Der Staat ist gleichzeitig auch Unternehmer, also darf er auch entscheiden, wer welchen Beruf ausübt."

Was damit gemeint sein soll, weiß wohl nur Herr Brandstätter selbst. Meint er mit der Unternehmerrolle ver­staat­lichte Betriebe? Wenn ja: Inwiefern entscheidet der Staat damit über die Berufs­ausübung der Menschen? Da besteht keinerlei Zusammenhang. Aber auch davon abgesehen ist nicht nachvollziehbar, in welcher Weise der Staat angeblich entscheide, "wer welchen Beruf ausübt".

Allerdings fällt mir da wieder Brandstätters Stellvertreterin, Martina Salomon, ein, die vor einiger Zeit in einem Leitartikel die Idee befürwortet hat, jene Studienrichtungen, die im Wirtschaftsleben weniger (oder gar nicht) gefragt sind, mit höheren Studien­gebühren zu belegen. Ich habe das damals in einem eigenen Blog-Eintrag kommentiert (siehe hier). Wenn es der Wirtschaft dient, sind also staatliche Interventionen zur Steuerung von Berufsausbildung (und damit -ausübung) den journalistischen Spitzenrepräsen­tan­ten des "Kurier" durchaus willkommen.

Mit dem dritten Vorwurf ist Brandstätter endgültig wieder dort angelangt, wo er mit seinem Plädoyer für "Freiheit" in Wahrheit hin will: beim Wirtschaftsliberalismus; sprich: beim möglichst ungehinderten Geld­scheffeln:

"Und im Zweifel treten Berufsorganisationen an seine [= des Staates] Stelle, geregelt durch staatliche Gesetze und ausgestattet durch das Geld der Bürger, die dafür zahlen müssen.

Inzwischen gibt es in Österreich über 250.000 EPUs,
Einpersonen­unternehmen, dazu viele Kleinbetriebe, die unter der Steuerlast stöhnen."

Das in lächerlicher Weise um Dramatik bemühte Bild des Stöhnens unter der Steuerlast fehlt ja nahezu in keinem Leitartikel mit Österreichbezug (egal ob im "Kurier" oder sonstwo). So etwas eignet sich natürlich immer bestens, um sich gleichsam in Herzen und Hirne der Leser/innen einzuschlei­men. Bei so viel journalistischem Einfühlungs­vermögen vergessen manche der Betrei­ber/innen eines Einpersonenunternehmens dann für einen Moment sogar, dass ihre Art der Erwerbstätigkeit vielleicht nicht so sehr mit ihrem Streben nach Freiheit zu tun hat, sondern schlicht mit wirtschaftlicher Notwendig­keit – soll heißen: weil sie anders keine Gelegenheit haben, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Gegen Ende des Artikels werden von Brandstätter dann noch ein paar Freiheitsaspekte erwähnt, die mit ökonomischen Belangen nichts oder weniger zu tun haben, wie etwa offene Grenzen in Europa, freie Gestaltung des Lebens in partnerschaftlicher Hinsicht oder ein liberalerer Strafvollzug. Solchen Belangen mag Brandstätter auch tatsächlich wohlwollend gegenüberstehen – vor allem, weil es ja Dinge sind, die nicht der Wirtschaft oder den Reichen schaden. Aber es ist eben nicht mehr als eine Draufgabe zum wirtschaftsliberalen Credo. Und mit dem letzten Satz seines Leitartikels ist Brandstätter wieder exakt dort, wo er die Leserschaft haben will:

"Freiheit ist viel mehr als weniger Steuern zu zahlen und mehr verfügbares Einkommen zu haben, aber das gehört auch dazu."

Dem, was (seines Erachtens) "auch" dazugehört, hat er dafür gleich geschätzte 80 oder 90% seiner Ausführungen gewidmet ...

Mit keinem einzigen Wort werden in dem Leitartikel hingegen die eigentlichen Be­schrän­kungen der Freiheit angesprochen, die unsere Zeit und unser (politisch-gesellschaftlich-wirtschaft­liches) System kennzeichnen. Sie werden kurzerhand totgeschwiegen.

Um darüber etwas zu erfahren, muss man schon andere Quellen zu Rate ziehen als einen Leitartikel im "Kurier". Wie einige scharfsinniger argumentierende Personen das mit der Freiheit heutzu­tage sehen, habe ich in einem eigenen Blogeintrag festgehalten: Freiheit – für wen und wovon? (Teil 2)