Am 7. Jänner 2015 überfielen zwei mutmaßlich islamistische Attentäter das
Pariser Redaktionsbüro der französischen Satirezeitschrift "Charlie Hebdo"
und töteten insgesamt 12 Menschen (darunter den Herausgeber der
Zeitschrift, mehrere Zeichner und einen zum Personenschutz in der
Redaktion anwesenden Polizisten). Der Anschlag war offensichtlich ein
Racheakt dafür, dass in "Charlie Hebdo" Karikaturen veröffentlicht
wurden, die den Islam bzw. die Moslems zum Gegenstand hatten.
(Eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse gibt es zum Beispiel bei Wikipedia:
http://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_Charlie_Hebdo )
Einleitend sei dazu Folgendes klargestellt:
-
Der Anschlag ist durch nichts zu rechtfertigen, und er ist vorbehaltlos
zu verurteilen (ebenso wie eine damit in Verbindung stehende
Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt am Tag darauf).
- Kritik an (jeder) Religion muss zulässig sein. Ja sie ist aus meiner (durch und durch atheistischen) Sicht sogar notwendig.
Diese
beiden Prämissen zu befürworten, heißt allerdings keineswegs, sich mit
jenen Anschauungen zu identifizieren, die seit dem 7. Jänner die
westliche Gesellschaft (und deren Medien sowieso) dominieren, ja
geradezu monopolisieren.
Ihren plakativsten Ausdruck finden diese Anschauungen in der derzeit an allen möglichen Orten kursierenden, einfältigen Parole "Je suis Charlie" ("Ich bin Charlie"):
Menschen
laufen mit entsprechenden Transparenten herum; die Tageszeitung
"Kurier" (die natürlich bei jeder zeitgeistigen Dummheit dabei ist)
druckt das entsprechende Logo auf den Politik-Seiten ihrer
Wochenend-Ausgaben ab; auch der Fernsehsender "Arte" drängt die Parole
seinem Publikum auf, indem er das Logo in seinen Programmen permanent am
Bildrand platziert; und selbst ein sonst so klar, nüchtern und in
vielen Belangen human denkender Mensch wie der griechische
Schriftsteller und Journalist Nikos Dimou veröffentlichte schon am 7.
Jänner das Logo kommentarlos in seinem Blog.
"Ich bin Charlie" meinen sie alle. Ich hingegen bin es sicherlich nicht.
Im Gegenteil: ich bin ein Gegner dieser Zeitschrift und der für ihren
Inhalt Verantwortlichen. Daran ändert auch die Ermordung einiger dieser
Leute nichts.
Der Grund für meine Gegnerschaft ist sehr einfach erklärt:
Ein
kurzer Blick ins Internet genügt, um zu erkennen, worum es bei den
sogenannten "islamkritischen" Karikaturen dieser Zeitschrift durchwegs
geht: um Spott, Beleidigung, Verletzung von Gefühlen, Verächtlichmachung
und Hetze.
Das hat teilweise ganz schlimme Auswüchse
angenommen. (Demgegenüber könnte man die Islam-Karikaturen, die 2005 die
dänische Zeitung "Jyllands-Posten" veröffentlicht hatte und die so viel
Aufruhr verursachten, als geradezu liebevolle Darstellungen
bezeichnen.)
Details darüber, was sich "Charlie Hebdo"
diesbezüglich erlaubt hat, möchte ich hier weder beschreiben noch
verlinken. Im Internet sind, wie gesagt, die einschlägigen Nachweise
(mühelos) zu finden.
Was haben all die "Ich-bin-Charlie"-Bekenner
dazu zu sagen? (Sofern sie überhaupt etwas sagen und sich nicht ohnehin
mit der geistlosen Wiedergabe der entsprechenden Parole bzw. des
zugehörigen Logos begnügen.) Von ihnen hört man typischerweise, dass
ihnen zwar manche Karikaturen in "Charlie Hebdo" auch nicht gefielen,
aber dass sie für die Freiheit der Meinungsäußerung (bzw. für die
Pressefreiheit) seien.
Dieser floskelhaft und undifferenziert
vorgebrachten Berufung auf die Freiheit der Meinungsäußerung
(Pressefreiheit bzw. allenfalls Kunstfreiheit sind im Folgenden immer
mit gemeint) ist vor allem zweierlei entgegenzuhalten:
1.
Auch
Meinungsäußerungsfreiheit hat ihre Grenzen – oder besser gesagt sollte
sie diese haben: nämlich einerseits dann, wenn andere Menschen durch die
(öffentliche) Äußerung grob und grundlos beleidigt oder in ihren
Gefühlen verletzt werden; andererseits in Fällen, wo die Äußerung
geeignet ist (oder sogar überhaupt mit der Absicht getätigt wurde),
Ressentiments und Hetze gegen bestimmte Menschen zu fördern.
Beides
trifft auf diverse Karikaturen in "Charlie Hebdo" zu. Die Machart der
Zeichnungen unterscheidet sich teilweise kaum von solchen, die in der
berüchtigten antisemitischen Hetzschrift "Der Stürmer"
publiziert wurden, die Julius Streicher im Deutschland der Nazi-Zeit
(bzw. schon zuvor) herausgebracht hat. (Auch Abbildungen aus dem
"Stürmer" findet man im Internet.) Damals waren Angriffsziel die Juden,
jetzt sind es (primär) die Moslems. (Dass in "Charlie Hebdo" auch andere
Religionen bzw. deren Anhänger aggressiv kritisiert bzw. karikiert
würden, wird gerne als Entlastung vorgebracht, enthebt die Zeitschrift
aber aus verschiedenen Gründen nicht der Verantwortung hinsichtlich
ihrer islam- bzw. moslembezogenen Veröffentlichungen.)
Dass eine
Zeitschrift wie der "Stürmer" noch immer erscheinen könnte, wäre im
heutigen Europa wohl unvorstellbar. (Ganz sicher kann man sich aber
nicht einmal dessen sein.) Auch ein großer Teil der "Je suis
Charlie"-Rufer wäre vermutlich (und hoffentlich) dagegen. Damit wäre
aber interessant zu wissen, wieso diese Leute im einen Fall ("Stürmer")
eine Grenze des Akzeptablen hinsichtlich der (zu Recht oder zu Unrecht
ins Treffen geführten) Meinungsäußerungsfreiheit vermutlich
überschritten sehen, im anderen Fall jedoch nicht; ja wieso sie
teilweise sogar ausdrücklich die "volle Solidarität" mit den Publizisten von "Charlie Hebdo" bekunden (so etwa der "Kurier"-Chefredakteur Helmut Brandstätter).
Aber
auch ganz andere Vergleichsbeispiele lassen sich heranziehen: Wäre es
legitim, dass die Blattlinie einer Zeitschrift darin bestünde, eine
bestimmte Gruppe von (körperlich oder geistig) behinderten Menschen zu
karikieren und sich über ihre Gebrechen lustig zu machen? Oder wäre es
legitim, in gleicher Weise über alte Menschen oder Obdachlose oder
Personen anderer Hautfarbe oder anderer sexueller Orientierung oder was
sonst immer herzuziehen?
Am Stammtisch oder bei vergleichbaren
Zusammenkünften mag das alles (leider) tatsächlich passieren. Aber das
heißt noch lange nicht, dass man Derartiges als einen Ausdruck des
westlichen Wertes "Meinungsäußerungsfreiheit" heroisieren sollte. Der
Pranger des Mittelalters gilt heute allgemein als barbarisch; den
Kommentaren am Stammtisch wird mit gutem Grund skeptisch begegnet.
"Charlie Hebdo" (und natürlich viele vergleichbare Formen heutiger
"Meinungsäußerung") sind nichts Anderes als der Pranger und der
Stammtisch in modernem und professionellem publizistischem Gewand – mit
dem wesentlichen Unterschied ungleich größerer Reichweite.
2.
Diese
knappen Erörterungen zur Meinungsäußerungsfreiheit und ihren
allfälligen Grenzen waren zwar notwendig, um mich nicht dem Vorwurf
auszusetzen, dieses Grundrecht zu ignorieren. Allerdings bin ich damit
der Journalisten-Lobby und den "Je suis Charlie"-Rufern in gewisser
Weise bereits auf den Leim gegangen. Deswegen ist ein zweiter Einwand
noch wesentlicher als jener, dass auch Meinungsäußerungsfreiheit (und
Pressefreiheit) ihre Grenzen hat bzw. haben sollte:
Vielen von denen, die sich jetzt so inbrünstig auf diese Grundrechte berufen, geht es nämlich in Wahrheit gar nicht darum!
Es
geht ihnen schlicht und einfach darum, tun und lassen zu können, was
sie wollen. "Ich darf alles" – das ist das oberste Credo des (vermeintlich)
aufgeklärten und (vermeintlich) demokratisch gesinnten westlichen Menschen.
Im
konkreten Fall bedeutet es: "Ich darf meinen Spaß haben, wann und
worüber ich will." Der Spaß wird dabei terminologisch oft zu "Humor"
oder "Satire" hochphilosophiert – womit man dann auch Gelegenheit hat,
sich ganz ungeniert auf den unvermeidlichen Tucholsky-Ausspruch "Satire
darf alles" zu berufen. Und schon kann man seinem eigenen Hochmut,
seiner Unverschämtheit, seiner Charakterlosigkeit und seiner
Menschenverachtung völlig hemmungslos freien Lauf lassen. Genau das
haben die Verantwortlichen von "Charlie Hebdo" ausgiebig praktiziert.
Was
für ein erschreckend deutliches Beispiel für "Newspeak" im Sinne von
Orwell's "1984": Man sagt hartnäckig "Freiheit der Meinungsäußerung",
meint aber ein vermeintliches Recht, beleidigen, verhöhnen und sich
dabei auf Kosten der davon Betroffenen amüsieren zu dürfen.
Die
Meinungsäußerungsfreiheit könnte darin zum Ausdruck kommen, sich
(beispielsweise) gegen den Islam (oder irgendeine andere Religion oder
Geisteshaltung) auszusprechen und dies im Idealfall auch sachlich und
überzeugend zu begründen. Sie könnte selbstverständlich auch darin
bestehen, zwar nicht den Islam insgesamt abzulehnen, wohl aber den
Islamismus oder die Verübung von Terroranschlägen unter Berufung auf
diese Religion. All das (und noch mehr) muss tatsächlich an Kritik
und/oder Ablehnung unter Berufung auf das Recht der freien
Meinungsäußerung legitim sein.
Den Karikaturisten von "Charlie
Hebdo" ist es aber eindeutig um Anderes gegangen: Sie wollten (mit einem
Thema) ihren Spaß haben (bzw. ihren Spaß unter die Leute bringen), sie
wollten provozieren, verletzen und Grenzen ausreizen bzw. genauer
gesagt: sie wollten unter Beweis stellen, dass es für sie gar keine
Grenzen gibt. Das dies alles der Öffentlichkeit (und jetzt sogar einer
Millionenschar in aller Welt) als Manifestation einer "Meinungsäußerung"
verkauft werden kann, ist absurd, hat aber – jedenfalls posthum –
gewirkt.
Und wie es gewirkt hat! Wer derzeit in der
"aufgeklärten" und "toleranten" westlichen Gesellschaft nicht unangenehm
auffallen will, tut gut daran, "Charlie zu sein". Wer an der
Zeitschrift und ihren Machern Anstoß nimmt, oder wer den "Je suis
Charlie"-Rummel kritisiert, muss damit rechnen, unverzüglich als
intolerant, als Gegner der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit und
damit als Feind der Demokratie abgestempelt zu werden. (Als humorlos
gilt man sowieso, wenn man nicht über jede sei es auch noch so dumme
Geschmacklosigkeit oder niederträchtige Menschenverachtung lacht.)
Ein
schönes Beispiel für diese Situation und gleichzeitig für die
totalitäre Gesinnung, die manchen von der Freiheit schwadronierenden
Publizisten innewohnt, liefert eine Äußerung des österreichischen
Karikaturisten Gerhard Haderer in der Zeitung "Der Standard" vom 8.
Jänner 2015. Über das derzeit übliche pathetische und verlogene
Geschwätz hinaus ("Es geht um die Freiheit des Wortes, um die Freiheit der Kunst." / "Satire darf alles" usw.), versteigt sich Haderer auch noch zu folgender Forderung:
"Ich
erwarte, dass die Zeichnungen von 'Charlie Hebdo' auf den Titelseiten
der Zeitungen auftauchen. Wir müssen aktiv sein und selbstbewusst sein
und sagen: Wir haben eine Kultur, und diese Kultur ist zu verteidigen."
(Quelle: http://derstandard.at/2000010133498 [aufgerufen am 13.1.2015])
Manche
Publizisten werfen also sogar die von ihnen sonst permanent beschworene
Freiheit der Medien ungeniert über den Haufen, wenn sie ihre Ideologie
durchsetzen wollen: Die Titelseiten der Zeitungen sollen das bringen,
was etwa einem Haderer genehm ist. Und letztklassige Karikaturen werden
dabei zum Ausdruck einer "Kultur" erklärt, die nun im Kollektiv "zu
verteidigen" sei!
Eine Geiselhaft durch "Charlie Hebdo" und die Sympathisanten der Zeitschrift.