Samstag, 30. April 2016

Der Tritt in den Spalt

Mehr oder weniger mit dem heutigen Thema hat sich erst mein voriger Blog-Artikel vom 23. April befasst (siehe hier). Weil die Dummheit in den Medien aber gar so prächtige Blüten treibt, ist es angebracht, es gleich wieder zu machen.

Guido Tartarotti schreibt nämlich im "Kurier" vom 27. April 2016 Folgendes:

"In Deutschland testet man jetzt Bodenampeln. Sie sollen Smartphone­dauerbewischer daran hindern, in den Straßenverkehr zu rennen. Weit sind wir nicht mehr entfernt von Warnschildern wie «Achtung, Schwerkraft». Die Bevormundungs­gesellschaft trainiert ihren Bürgern erfolgreich das eigenständige Denken ab und muss jetzt sukzessive  die Dosis steigern, um zu verhindern, dass die ganze Menschheit  in dem schrecklichen Spalt zwischen Waggontür und Bahnsteigkante verschwindet."

Mit der Frage der Sinnhaftigkeit von Bodenampeln (von denen ich zum ersten Mal erfahre) sollen sich zunächst einmal die Verkehrsexperten beschäftigen; dazu äußere ich mich gar nicht. Ich heiße ja nicht Tartarotti. Wozu ich Stellung nehme, ist die geradezu schon pathologisch anmutende Abneigung dieses Herren gegen alles, was auch nur im Entferntesten mit Gebot, Verbot, Regelung, Warnung oder auch nur Hinweis zu tun hat. Natürlich steht er damit nicht allein da – ganz im Gegenteil: Er ist damit ein würdiger Repräsentant eines ebenso vertrottelten wie verantwortungslosen Zeit­geists. Wieder einmal gilt daher: Kritik am Boulevardjournalismus ist oft auch Kritik an der Gesellschaft.

In Zusammenhang mit den oben zitierten Ausführungen Tartarottis ist dabei insbesondere die völlig verfehlte Verwendung des Wortes "Bevormundung" zu beanstanden. Meistens wird der Ausdruck ja in Kombination mit den (ebenso unredlich gebrauchten) Vokabeln "Eigenverantwortung" bzw. "Selbstverantwortung" eingesetzt. Das ist auch logisch; es handelt sich ja gleichsam um zwei Seiten desselben schäbigen rhetorischen Tricks.

Meine Kritik am manipulativen (oder auch "nur" gedankenlosen) Gebrauch von Ausdrücken wie Eigen- oder Selbstverantwortung kann man in meinem vorigen Blog-Eintrag und vor allem auch schon in einem früheren Artikel von mir nachlesen; schon damals ging es um "Verkehrsampeln – und ihre Folgen" (vor allem bei einem Journalisten namens Tartarotti …).

Was hat es nun mit der angeblichen "Bevormundung" auf sich? Kurioser­weise existiert sie in vielen Fällen einfach nicht, in denen sie von den pseudorebellischen Maulhelden à la Tartarotti ins Treffen geführt wird. Ein schönes Beispiel dafür liefert er, indem er sich "auf den schrecklichen Spalt zwischen Waggontür und Bahnsteigkante" bezieht. Er spottet damit über die Ansagen in manchen Wiener U-Bahn- und Schnell­bahn­stationen, in denen die Fahrgäste darauf hingewiesen bzw. daran erinnert werden, beim Ein- und Aussteigen auf den aus baulichen Gründen unüblich großen Spalt zu achten.

Würde Herr Tartarotti zum Schreiben seiner Texte nicht nur die Tastatur, sondern auch sein Gehirn verwenden, dann wäre ihm mit einem Schlag klar, dass seine arrogante Anspielung denkbar ungeeignet ist, um seine abwegige These einer "Bevormundungs­gesellschaft" zu untermauern: Eine Lautsprecherstimme, die mich auf den Spalt hinweist, bevormundet mich nicht. Man kann und man darf nämlich auch das genaue Gegenteil dessen tun, was die Stimme empfiehlt. Tartarotti möge sich bei der nächsten U-Bahn- oder Schnellbahnfahrt selbst davon überzeugen:

Wenn er den Hinweis vernimmt, soll er sich trotzig sagen: "Nein, ich lasse mich nicht bevormunden. Ich bin ein freier Mensch und steige nicht über den Spalt (drüber), sondern in den Spalt (hinein)." Und dann soll er diesen selbstbewussten Schritt auch setzen – im wahrsten Sinn des Wortes. Er wird feststellen: Niemand hindert ihn daran – schon gar nicht die vermeintlich bevormundende Stimme aus dem Lautsprecher. (Er würde zwar möglicherweise im Spital landen und im ungünstigsten Fall – wenn der Zug gerade losfährt sogar einen Arm oder ein Bein verlieren, aber sich dann immerhin mit Genugtuung sagen können, der [eingebildeten] Bevormundung getrotzt zu haben.)

Womit auch schon die Sinnhaftigkeit der Warnung vor dem Spalt deutlich wird: Wenn durch den Lautsprecherhinweis auch nur ein einziger Arm- oder Beinbruch verhindert wird (von einer Amputation ganz zu schweigen), dann hat er seine Existenzberechtigung. Punktum! So einfach ist das.

Und wenn Tartarotti polemisch meint, dass "(d)ie Bevormundungs­gesell­schaft (…) ihren Bürgern erfolgreich das eigenständige Denken abtrai­niert", so verkennt er (nebst manchem anderen Aspekt), dass es insbesondere im öffentlichen Raum ganz vorrangig um Sicherheit und (damit oft im Zusammenhang) um geordnete Abläufe (etwa im Verkehrsfluss) geht und zu gehen hat. Pädagogische Ambitionen (beispielsweise in Bezug auf das eigenständige Denken der Menschen) sind dort schlicht und einfach fehl am Platz! Dort haben sich Regeln, Hinweise, Empfehlungen etc. an den Menschen zu orientieren, wie sie in der Realität nun mal sind: also (auch) unachtsam, zerstreut, ahnungslos, unerfahren, begriffsstützig, leichtsinnig usw. 

Es ist Ausdruck von Zynismus und Kaltschnäuzigkeit, solchen Menschen (zu denen wir situationsbedingt übrigens alle manchmal gehören können) nach dem Motto "selber schuld" (also gleichsam straf­weise) ihre (zusätzliche Chance auf) Sicherheit vorenthalten zu wollen (sogar die Chance in Form eines harmlosen Lautspre­cher­hinweises!). Und diese – leider im Trend liegende Gefühllosigkeit manifestiert sich eben im inflationären Gebrauch von Schlagworten wie Selbstverantwortung, Mündig­keit usw. 

Eigenständiges Denken ist (bzw. wäre) zweifellos gut und wichtig. Aber wer es uns "abtrainiert", das ist ganz sicher nicht die Stimme, die uns vor dem Spalt am Bahnsteig warnt. Da gibt es ganz Andere, die das tun (oder es zumindest versuchen). An erster Stelle die (Boule­vard-)Me­dien