Dienstag, 8. Mai 2018

Die Rede Michael Köhlmeiers

Am vergangenen Freitag (4. Mai 2018) hielt der Schriftsteller Michael Köhlmeier im Zeremoniensaal der Wiener Hofburg eine Rede. Anlass war eine von den Präsidenten der zwei Kammern des österreichischen Par­la­ments organisierte Veranstaltung zum jährlich (am 5. Mai) stattfindenden "Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus" (Näheres zum Gedenktag steht zum Beispiel auf der Webseite erinnern.at). 

Als Zuhörer anwesend war unter Anderem ein Großteil der ÖVP-FPÖ-Bundes­regie­rung. (Bundeskanzler Kurz war wegen Erkrankung nicht dabei.)

Ich finde, dass bei dieser Rede – die viel Aufsehen erregte – einfach alles passt: An vorderster Stelle natürlich ihr Inhalt; darüber hinaus war sie aber auch goldrichtig in Hinblick auf die Veranstaltung, deren Rahmen und das Publikum.

Die Rede wurde auch im Fernsehen übertragen und ist im Moment noch in der sogenannten TV-Thek des ORF abrufbar. Weil Sendungen dort aber nur über (sehr) begrenzte Zeit zur Verfügung gestellt werden, verlinke ich zu Youtube, wo jemand diesen Fernsehmitschnitt dankenswerterweise hoch­ge­laden hat: https://www.youtube.com/watch?v=mtyN7SrIiE0

Ich habe die folgende Mitschrift von Köhlmeiers Rede angefertigt (ergänzt um ein paar Fußnoten – insbesondere deshalb, um einige tagesaktuelle Bezugnahmen Köhlmeiers auch noch in Zukunft verständlich zu halten):

"Sehr geehrte Damen und Herren!

Präsident Sobotka hat mir Mut gemacht, als er gesagt hat, man muss die Dinge beim Namen nennen. Und bitte erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich dumm stelle. Nicht an so einem Tag und nicht bei so einer Zusammen­kunft.

Ich möchte nur Eines: Den Ermordeten des NS-Regimes, von deren Leben die jungen Damen und Herren vorhin so unglaublich ein­dring­lich berichtet haben, in die Augen sehen können. Und sei es auch nur mit Hilfe Ihrer und mit Hilfe meiner Einbildungskraft.

Und diese Menschen höre ich fragen: Was wirst Du zu jenen sagen, die hier sitzen und einer Partei angehören, von deren Mitgliedern immer wieder einige nahezu im Wochen­rhythmus naziverharmlosende oder antisemitische oder rassistische Meldungen abge­ben; entweder gleich in der krassen Öffentlichkeit oder klammversteckt in den Foren und sozialen Medien. Was wirst du zu denen sagen?

Willst du so tun, als wüsstest du das alles nicht? Als wüsstest du nicht, was gemeint ist, wenn sie ihre Codes austauschen. Einmal von 'gewissen Kreisen an der Ostküste' sprechen.1) Dann mit der Zahl 88 spielen.2) Oder wie eben erst den Namen 'George Soros' als Klick verwenden zu Verschwörungstheorien in der unseligen Tradition der Protokolle der Weisen von Zion. Der Begriff 'stichhaltige Gerüchte' wird seinen Platz finden im Wörterbuch der Niedertracht und der Verleumdung.3)

Gehörst du auch zu denen, höre ich fragen, die sich abstumpfen haben lassen? Die durch das gespenstische Immer-Wieder dieser Einzelfälle nicht mehr alarmiert sind, sondern im Gegenteil das häufige Auftreten solcher Fälle als Symptom der Landläufig­keit abtun; des Normalen, 'Des kenn ma eh schon', des einschläfernden 'Ist nix Neues'.

Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem Schritt. Nie. Sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.

Willst du es dir – so höre ich fragen – des lieben Friedens willen widerspruchslos gefallen lassen, wenn ein Innenminister wieder davon spricht, dass Menschen 'konzentriert gehalten werden sollen'? 4)

Willst du feige die Zähne zusammenbeißen, wo gar keine Veran­las­sung zur Feigheit besteht? Wer kann dir in deinem Land, in deiner Zeit schon etwas tun, wenn du die Wahrheit sagst?

Wenn diese Partei, die ein Teil unserer Regierung ist, heute dazu aufruft, dass Juden in unserem Land vor dem Antisemitismus mancher Muslime, die zu uns kommen, geschützt werden müssen, so wäre das recht. Und richtig. Allein – ich glaube den Aufrufen nicht.

Anti-Islamismus soll mit Philo-Semitismus begründet werden. Das ist genauso verlogen wie ehedem die neonkreuzfuchtelnde Liebe zum Christentum.5)

Sündenböcke braucht das Land.

Braucht unser Land wirklich Sündenböcke?

Wer traut uns solche moralische Verkommenheit zu?

Kann man in einer nahestehenden Gazette schreiben, die befreiten Häftlinge aus Mauthausen seien eine 'Landplage' gewesen, und sich zugleich zu Verteidigern und Beschützern der Juden aufschwingen? 6)

Man kann. Ja, man kann.

Mich bestürzt das Eine – das Andere glaube ich nicht. Und wer das glaubt, ist entweder ein Idiot. Oder er tut so, als ob; dann ist er ein Zyniker. Und beides möchte ich nicht sein.

Meine Damen und Herren, Sie haben diese Geschichten gehört, die von den jungen Menschen gesammelt wurden. Und sicher haben Sie sich gedacht: 'Hätten diese armen Menschen damals doch nur fliehen können.' Aber Sie wissen doch: Es hat auch damals schon Menschen gegeben – auf der ganzen Welt –, die sich damit brüsteten, Flucht­routen geschlossen zu haben.7)

Ich habe lange darüber nachgedacht, was ich heute vor Ihnen sagen soll. Und mir wäre lieber gewesen, man hätte mich nicht gefragt, ob ich sprechen will. Aber man hat mich gefragt, und ich empfinde es als meine staatsbürgerliche Pflicht, es zu tun.

Es wäre so leicht, all die Standards von 'Nie wieder' und bis 'Nie vergessen' – diese zu Phrasen geronnenen Betroffenheiten – anein­anderzureihen, wie es für Schulaufsätze vielleicht empfohlen wird, um eine gute Note zu bekommen.

Aber dazu müsste man so tun, als ob. Und das kann ich nicht, und das will ich nicht.

Schon gar nicht an diesem Tag, schon gar nicht bei dieser Zusam­men­kunft. Ich möchte den Opfern, die mit Hilfe der Recherchen und der Erzählungen dieser jungen Menschen und mit Ihrer und mit meiner Einbildungskraft zu mir und zu Ihnen sprechen und mir zuhören – ihnen möchte ich in die Augen sehen können. Und mir selbst auch.

Und mehr habe ich nicht zu sagen. Danke."
___________________

1) Der in New York ansässige Jüdische Weltkongress spielte 1986 bei der Aufdeckung und Verurteilung der Kriegsvergangenheit des damaligen Bun­des­präsidentschafts­kandidaten Kurt Waldheim eine entscheidende Rolle. In Österreich kam damals die Formulierung von "gewissen Kreisen an der Ostküste" auf, welche Waldheim – und in weiterer Folge Österreich – diffamieren würden.

2) Die Zahl 88 steht in der rechten Szene als Kürzel für "Heil Hitler" (auf­grund des "H" als 8. Buchstaben des Alphabets).

3) George Soros ist ein in Ungarn geborener, aus einer jüdischen Familie stammender US-amerikanischer Investor. Einer der beiden Klubobmänner der FPÖ, Johann Gudenus, hatte vor wenigen Tagen in einem Zei­tungs­interview gemeint, es gebe "stichhaltige Gerüchte", wonach Soros daran betei­ligt sei, "Migrantenströme nach Europa zu unterstützen". Zu den Pro­to­kollen der Weisen von Zion siehe etwa den Eintrag in der Wikipedia.

4) Der FPÖ-Innenminister Herbert Kickl hatte im Jänner 2018 in einer Pressekonferenz erklärt, dass er sich dafür ausspreche, Asylwerber künftig in Grundversorgungszentren unterzubringen. Dort gelinge es, "diejenigen, die in ein Asylverfahren eintreten, auch entsprechend konzentriert an einem Ort zu halten" (s. etwa den Mitschnitt auf Youtube). Manche deute­ten diese Formulierung als eine Anspielung auf Konzentrationslager.

5) Ich vermute, mit "neonkreuzfuchtelnde Liebe zum Christentum" spielt Köhlmeier auf eine Aktion des FPÖ-Parteiobmanns und nunmehrigen Vize­kanzlers Heinz-Christian Strache im EU-Parlamentswahlkampf 2009 an: Strache trat mit einem Kreuz in der Hand auf, um damit der damaligen FPÖ-Wahlkampfparole "Abendland in Christenhand" Nachdruck zu verleihen.

6) In der Zeitschrift "Die Aula" hieß es in der Ausgabe vom Juli/August 2015 in einem Artikel mit dem Titel "Mauthausen-Befreite als Massenmörder" unter Anderem: "Die Tatsache, dass ein nicht unerheblicher Teil der befrei­ten Häftlinge aus Mauthausen den Menschen zur Landplage gereichte, gilt für die Justiz erwiesen und wird heute nur noch von KZ-Fetischisten be­strit­ten."
Die in Rede stehende Zeitschrift ist laut FPÖ-Klubobmann Walter Rosen­kranz ein "Organ des Freiheitlichen Akademiker­verbandes" bzw. "der -verbände" (so Rosenkranz am 6. Mai 2018  in der Diskussionssendung "Im Zentrum", ORF 2).

7) Sebastian Kurz (ÖVP) – der nunmehrige Bundeskanzler – hatte sich in seiner Zeit als Außenminister zugute gehalten, 2016 für die Schließung der sogenannten Balkanroute gesorgt und damit die damaligen Flüchtlinge bzw. Migranten an der Weiterreise nach Mitteleuropa gehindert zu haben. Siehe dazu auch meine Blog-Einträge Ein Loblied auf den Falschen, Überfordertes Österreich? sowie Orban, Kurz und Idomeni.