Als Folge der Corona-Pandemie bzw. der damit zusammenhängenden Maßnahmen sehnt sich die österreichische Gesellschaft seit Monaten nach der sogenannten "Normalität" (also dem, was sie halt darunter versteht), und sie versinkt dabei in einem absurden Selbstmitleid über den ihr zugefügten Verlust an "Freiheit" (auch wieder dem, was sie halt darunter versteht).
1. Die Empörten
Die besonders Eifrigen marschieren an Wochenenden bei illegalen und dubiosen Demonstrationen mit und beklagen dort lautstark bis rabiat ihr Schicksal. Sie werden gerne als die "besorgten Bürger/innen" bezeichnet.
Anlass zur Besorgnis geben aber gerade diese Leute selbst. Und das aus zwei Gründen:
• Der erste ist offenkundig: Die Teilnehmer/innen ignorieren bestehende Versammlungsverbote (und halten sich bei ihren Aktivitäten dann auch konsequenterweise meist nicht an Abstandspflichten und die Gebote zum Tragen von Schutzmasken).
Die Untersagung dieser Versammlungen erfolgt nicht aus irgendwelchen finsteren, antidemokratischen oder repressiven Absichten, sondern ausschließlich zum Zweck des Gesundheitsschutzes. Deshalb ist gegen solche Beschränkungen auch (ich würde sogar sagen: gerade) aus der Sicht eines ideologisch links stehenden Menschen (wie meiner Wenigkeit) nicht das Geringste einzuwenden. Wenn man es mit einem antiquierten Ausdruck bezeichnen wollte, so liegen die einschlägigen Versammlungsverbote in Pandemie-Zeiten im Interesse der "Volksgesundheit". Und wenn es um das "Volk" und dessen Interessen geht, dann müsste das doch gerade bei jenen, die an diesen Kundgebungen teilnehmen, auf Zustimmung treffen.
• Und damit bin ich beim zweiten Grund für wahre Besorgnis: der Gesinnung jener, die sich dort zusammenfinden. Damit meine ich nicht einmal so sehr irgendwelche deklariert rechte Personen(gruppen), sondern die dortige Klientel insgesamt. Es gilt auch hier dasselbe wie in vielen anderen Bereichen: Wer seine Botschaften unmissverständlich verkündet, ist wenigstens ein klarer Gegner und insofern harmloser (weil leichter zu durchschauen) als irgendein "Krypto" (ein Krypto-Rechter, ein Krypto-Nationalist, ein Krypto-Faschist usw.). Solche Kryptos sind dann die Typen (und "Typinnen"), die auf diesen Demonstrationen eben als vermeintlich "besorgte Bürger/innen" in Erscheinung treten oder – in einem Akt besonderer Lächerlichkeit – mit rot-weiß-roten Fahnen mitmarschieren (als ob das Corona-Virus bzw. die dadurch ausgelösten gesundheitspolitischen Maßnahmen – wie auch immer man sie in der Sache beurteilen mag – etwas mit Nation bzw. "Vaterland" zu tun hätten).
Es geht mir aber bei meiner (kritischen) Betrachtung nicht nur um diesen "harten Kern" von "Besorgten" und "Leidenden", der sich auf besagten Demonstrationen zusammenfindet.
2. Die Gesellschaft im Allgemeinen
Es gibt in der Gesellschaft ganz offenkundig eine generelle Tendenz, sich an Vorsichtsmaßnahmen (insbesondere) in Zusammenhang mit Covid nicht (oder nicht länger) halten zu wollen. Und das hat höchst gefährliche Konsequenzen: Auch hier natürlich wieder unmittelbar für die Gesundheit, weil dadurch der Ausbreitung des Virus Vorschub geleistet wird. Aber darüber hinaus ebenso auf einer politischen Ebene – bis hinauf in die Regierung; etwa wenn am 22. März 2021 in der "Zeit im Bild 2" ein völlig überforderter und hilfloser Gesundheitsminister Rudolf Anschober (von den Grünen) nach so gut wie ergebnislosen Gesprächen mit Experten, Regierungskolleg/innen und Landeshauptleuten über Maßnahmenverschärfungen freimütig erklärte:
"Also ich kämpfe wirklich darum, dass wir die bestmöglichen, raschen, effizienten Maßnahmen realisieren – da ist ein Gesundheitsminister manchmal ein bisschen alleine auf weiter Flur. […]
Ich bin Gesundheitsminister, aber ich brauche Entscheidungen, die breit getragen werden; ich brauche Entscheidungen, die von einer Bundesregierung getragen werden, und ich w i l l Entscheidungen, die auch von den betroffenen [Bundes-]Ländern getragen werden."
All das ist ihm – trotz der Dringlichkeit der (medizinischen) Situation – in den Gesprächen vom 22. März nicht gelungen. (Zwei Tage darauf gab es einen dürftigen Kompromiss mit den Landeshauptleuten von Wien, Niederösterreich und Burgenland über eine halbherzige Verschärfung der Maßnahmen in diesen drei Bundesländern.) Ein Gesundheitsminister ist in Geiselhaft anderer Politiker/innen, die es offensichtlich darauf angelegt haben, "bestmögliche, rasche, effiziente" Maßnahmen zur Covid-Bekämpfung zu verhindern – weil sie es sich mit einer sogenannten Corona-müden Bevölkerung nicht verscherzen möchten. Was Anschober da in der "Zeit im Bild 2" gesagt hat, sollte eigentlich Anlass für seinen Rücktritt sein.
Aber jämmerliche Versager/innen sind sie ja alle – von den Politiker/innen angefangen bis zu einer einfältig-undisziplinierten Bevölkerung, die es zu einem großen Teil selbst in der Hand hätte, durch einige simple Vorsichtsmaßnahmen samt einer gewissen Selbstbeschränkung die Ausbreitung des Corona-Virus in Zaum zu halten.
Am 23. März 2021 hat im Ö1-Morgenjournal ein Experte die Situation glasklar dargelegt, nämlich der Leiter der Internen Abteilung mit einer Covid-19-Station im Landesklinikum Melk (Niederösterreich), Primar Harald Stingl. Er meinte:
"Ich glaube, wir haben eine gewisse Chance verspielt im Herbst und im Winter, wo wir vielleicht noch strenger hätten sein können. Das ist aber Jammern über verschüttete Milch. Jetzt im Moment würden wir uns aus medizinischer, aus epidemiologischer Sicht natürlich wünschen, dass strengere Maßnahmen da sind – so wie es jetzt auch Deutschland macht. Ich weiß aber gleichzeitig (ich rede auch mit vielen Leuten), dass der Rückhalt in der Bevölkerung dafür immer schlechter wird, immer schwieriger wird. Ich kenn' das aus dem eigenen Umfeld: Selbst Leute, die bisher sehr, sehr brav mit Allem mitgemacht haben, auf einmal müde werden beim Masken-Tragen, beim konsequenten Umsetzen, doch wieder Andere treffen wollen.
Also offen gestanden: Ich weiß keine Patentlösung. Ich tu' mir auch ganz schwer, da sozusagen das Richtige zu empfehlen."
Hier wurde also ein Kernproblem in Zusammenhang mit der Covid-Pandemie deutlich angesprochen: die Diskrepanz (ja geradezu der Antagonismus) zwischen medizinisch-wissenschaftlich (und damit rational) Gebotenem einerseits und gesellschaftlichem Verhalten (samt zugrundeliegender – irrationaler – Einstellung) andererseits.
3. Die Medien
Die Medien (teilweise auch der öffentlich-rechtliche ORF) betätigen sich leider viel zu sehr als "Volksversteher", indem sie die Leute in ihrem deplatzierten Selbstmitleid bestärken. Das liest sich zum Beispiel in einem Leitartikel von Gert Korentschnig im Kurier vom 21. März 2021 so:
• "Die schlimmste Frühjahrsmüdigkeit" lautet gleich mal die depressiv-dramatische Überschrift.
Und dann kommen Aussagen vor wie folgende:
• "Aber auch Menschen, die bisher davon [= von Covid] verschont wurden, fühlen sich mittlerweile kraftlos und müde. Das Wellenreiten in der Pandemie saugt so viel Energie ab."
Da wird schon geschwelgt im Leid – und in welch blumigen Formulierungen.
• "Nach mehr als einem Jahr ist man so vieler Dinge müde: Dass man nur noch fremdbestimmt agiert und Politiker und irgendwelche Gremien über unseren Bewegungsradius entscheiden; dass wir in unseren Freiheiten schon so lange beschränkt werden; dass wir unseren Job (sofern wir ihn behalten konnten) und unseren Alltag nicht so gestalten können, wie wir wollen; […]."
Eigentlich beschreibt Korentschnig hier zutreffend die Situation des Durchschnittsmenschen im kapitalistischen System (auch) in Zeiten ganz ohne Corona. (Den Passus "Politiker und irgendwelche Gremien" muss man halt durch "der Chef/die Chefin" ersetzen.) Aber leider ist es unvorstellbar, dass man eine solche Diagnose auch in Nicht-Pandemie-Zeiten in sogenannten "unabhängigen Medien" zu lesen bekäme. Wer so etwas schriebe, wäre keinen Tag länger als Redakteur/in im Dienst. ;-)
Und dann passiert etwas Überraschendes: Für einen Augenblick blitzt in dem Text doch ein Moment der Erkenntnis auf – wenn auch vage und ganz verschämt als Halbsatz in Klammern. Korentschnig fasst zusammen (Hervorhebung in Fettdruck von mir):
• "[…] All das subsumiert unter: Dass wir nicht mehr autonome Individuen, sondern in virale Abhängigkeitsverhältnisse geschlittert sind (wie autonom wir davor tatsächlich waren, ist eine andere Frage)."
Hört, hört! Ja, er formuliert es vage und verschämt – aber immerhin ist ein Moment der Hellsicht zu konstatieren, wenn er Zweifel an unserer Autonomie vor der Corona-Zeit anklingen lässt. Das ist für den Redakteur einer Boulevard-Zeitung recht ungewöhnlich.
Dann geht es weiter in den düsteren Farben:
"[…] – nach dieser langen Reise [er meint jene durch die Corona-Krise] erleben viele bisher ihre schlimmste Frühjahrsmüdigkeit."
Und die Medien greifen solche Befindlichkeiten eben gerne auf.
Zugutehalten muss ich Korentschnig, dass er dann im letzten Absatz zwei sehr vernünftige Gedanken niederschreibt, insbesondere folgenden:
"Wer jetzt ungeduldig wird und vielleicht rebelliert (etwa durch Abnehmen der Masken), gewinnt nicht mehr Freiheit, sondern verlängert nur die Corona-Haft für alle."
Der dramatisierende Ausdruck "Corona-Haft" ist natürlich lächerlich bis absurd – aber in der Sache stimme ich diesem (in eine Feststellung gekleideten) Appell zu.
4. Mehr blöd denn müde
Für mich
ist es nicht so sehr eine (wie auch immer geartete) Corona-Müdigkeit, die
(offenbar große) Teile der Bevölkerung prägt, sondern Blödheit – in ihren
mannigfaltigen Ausdrucksformen: Irrationalität, Ignoranz, fehlende
Intelligenz usw. Dazu noch Verantwortungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit.
Aber die sind keine Sache der Blödheit, sondern des mangelnden Charakters bzw.
der mangelnden Moral – befeuert durch ein (Gesellschafts-)System, das die zügellose Freiheit und die sogenannte "Eigenverantwortung" des Individuums (außerhalb von Arbeitsverhältnissen) zum Maß aller Dinge erhebt.
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PS: Wie zur Bestätigung meiner Auffassung las ich nach dem Verfassen obiger Zeilen auf orf.at Folgendes:
(Quelle: https://orf.at/stories/3206949/ , Meldung online gestellt und aufgerufen am Samstag, 27. März 2021)
"Ungeachtet der eindringlichen Warnungen von Gesundheitsexpertinnen und -experten sind am Freitag und Samstag zahlreiche Menschen in Geschäfte und öffentliche Orte geströmt. Das Wetter und die geplante 'Osterruhe' im Osten des Landes sorgten für volle Plätze und Shops. […]
In Wien gab es bereits am Freitag Medienberichte über zahlreiche Menschen, die den ersten richtigen Frühlingsabend in Gruppen am Donaukanal oder im Prater verbrachten, in Innsbruck veranlassten die Menschenansammlungen auf Marktplatz und Innufer die Stadt bereits dazu, mit Platzsperren zu drohen. Vielerorts strömten die Menschen in ganz Österreich am Samstag dann in die Geschäfte. Die geplante 'Osterruhe', die zunächst nur für Wien, Niederösterreich und das Burgenland gedacht ist, verlockte viele dazu, sich etwa in Baumärkten noch mit Material einzudecken. Lange Schlangen vor Geschäften in Einkaufsstraßen und Ansammlungen waren die Folge."