Sonntag, 28. März 2021

Ein zwielichtiger Satz

Frau Dr. Martina Salomon, leider immer noch Chefredakteurin der Tages­zeitung "Kurier", verfasste in der Ausgabe vom 20. März 2021 wieder einmal einen bemerkens­werten Leitartikel – bemerkenswert im negativen Sinne, versteht sich.

Zu den bekannten Untugenden, die Salomons Texte prägen und hier im Blog von mir schon vielfach dokumentiert und kritisiert wurden, gesellt sich diesmal der Umstand, dass die Journalistin an einer Stelle ihres Artikels in eine diffuse Grauzone zwischen fahrlässig produzierter Unwahrheit und unverhohlener Lüge geraten ist. 

 

1. Eine Standpauke an Deutschland 

Der Leitartikel trägt die abgeschmackte Überschrift "Liebe Deutsche, ihr macht es uns schwer". Worum es geht, umreißt der Untertitel:

"Dem Nachbarn nacheifern? Keine gute Idee: Vom Testen über den Maskenskandal bis hin zur Infrastruktur gibt es Probleme". 

Die Frau Lehrerin aus der österreichischen Boulevard-Zeitung erteilt also mit erhobe­nem Zeigefinger gleichsam journalistische Zensuren an das Nach­bar­land. Man kann es mit einem Anglizismus auch anders formulieren: sie betreibt in dem Artikel Deutschland-Bashing (dessen Motive schwer zu ergründen sind).

Der Text beginnt mit einer dümmlichen Frage: 

"Ist der große Nachbar eigentlich noch Vorbild?"

Als ob es darauf ankäme. Das sehnsüchtige Blicken zum großen Nachbarn hatten wir doch schon mal. Die Folgen sind bekannt bzw. lassen sich in Büchern zur Zeitge­schich­te nachlesen. 

Jedenfalls beantwortet Salomon ihre unnötige Frage gleich im nächsten Satz:

"Bei aller Sympathie für die Deutschen, derzeit machen sie es einem schon ziemlich schwer."

So gern ließe sie sich von ihnen als Vorbild leiten – und dann diese Enttäu­schungen. 

In weiterer Folge schreibt sich Salomon ihren Kummer über die Unzu­läng­lich­keiten im Nachbarland von der Seele. Da wird aufgezählt, was ihr so alles in den Sinn kommt:

Das temporäre Aussetzen eines der Covid-Impfstoffe, was dessen Image in der EU "rampo­niert" habe; das mangelhafte Corona-Testmanagement; ein Schutz­mas­ken­skandal unter mutmaßlicher Beteiligung von Politikern; zu langsames Impfen usw. usw. In den letzten Absatz packt sie dann diverse andere, Corona-unabhängige Themen, wie zum Beispiel folgende: 

Die Energiewende in Deutschland führe "zu höchsten Preisen und instabi­len Netzen"; der "Berliner Mietpreisdeckel habe das Angebot verknappt und die Preise erhöht"; die Infrastruktur sei "für ein so reiches Land erstaun­lich heruntergespart".

Letzteres illustriert Salomon allen Ernstes an dem lächerlich-belanglosen Beispiel, dass jemand (vermutlich sie persönlich) an einem Ort in Grenznähe zu Österreich in ein "komplettes Funkloch" geraten sei. (!) – Na das ist aber eine furchtbare Erfahrung. Da muss ja die Vorbildfunktion verloren gehen.

So weit der kuriose Rahmen, in den Salomon den höchst zwielichtigen Satz eingebaut hat, um den es jetzt geht.

 

 2. Eine Lüge? 

Während der Lektüre des Leitartikels fragte ich mich mehrmals: Wann kommt nach so viel Kritik an deutschen Vorkommnissen endlich die Erwähnung eines der wesent­lichs­ten Kriterien zur Beurteilung der Covid-Situation, nämlich der sogenannten Sieben-Tage-Inzidenz (also der Anzahl der laborbestätigten Covid-Fälle pro 100.000 Einwoh­nern in den letzten sieben Tagen)? Diese Kennzahl liegt in Deutschland bekanntlich weitaus niedriger als in Österreich.

Ziemlich in der Mitte des Artikels spricht Salomon dann tatsächlich davon. Das macht sie folgendermaßen: 

"Vergleichsweise nicht gut steht Österreich hingegen bei den Fallzahlen da (…). Beide Länder mäandern bei der Sieben-Tage-Inzidenz, ab der es Lockerungen geben könnte, herum. Die Deutschen lizitierten sich weit nach unten. Angela Merkel strebte 35 an, manche sogar null. Faktum ist: Jetzt beträgt sie 95, Tendenz steigend. Dennoch gab es mehr Freiheiten.*"

*[Anm.: Gemeint möglicherweise: Mehr Freiheiten zeitlich betrachtet, also im Vergleich zu früher in Deutschland. (?) (Jedenfalls nicht im Vergleich zu Österreich – denn die deut­schen Maß­nah­men der letzten Zeit sind bekannt­lich allesamt strenger als jene Öster­reichs.)] 

Salomon referiert also geradezu genüsslich den deutschen Inzidenzwert von 95. Jener Österreichs wird hingegen verschwiegen. An keiner Stelle im Text wird eine einschlägige Zahl genannt.

Das hat einen simplen Grund: Die österreichischen Zahlen passen so gar nicht in das Konzept Salomons, ein düsteres Bild von der deutschen Corona-Lage zu zeichnen.

Als die 7-Tage-Inzidenz in Deutschland bei der von ihr genannten Zahl 95 (bzw. 96) lag (das war am 19. März 2021)1), betrug sie in Österreich 233 (bzw. exakt 233,23), somit mehr als das Doppelte2).

1) [Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1192085/umfrage/coronainfektionen-covid-19-in-den-letzten-sieben-tagen-in-deutschland/ ] 

2) [Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1218042/umfrage/coronainfektionen-covid-19-in-den-letzten-sieben-tagen-in-oesterreich/ ]

Salomon benutzt also wieder einmal eine bewährte Masche der Manipu­lation: Was der beabsichtigten Botschaft abträglich sein könnte, wird einfach weggelassen. 

Sie geht aber noch einen Schritt weiter: Im nächsten Satz trifft sie eine Aussage, die bei wohlwollendster Auslegung als eine unbeabsichtigte (aber auf Nachlässigkeit beruhen­de) Irreführung, bei strenger Interpretation als ein bewusstes Belügen der Leserinnen und Leser gedeutet werden kann. Salomon schreibt (Hervorhebung in Fettdruck von mir):

"Inzwischen haben manche deutsche Bundesländer bereits höhere Werte als Tirol, wo die Deutschen bis jetzt auf schikanösen Grenz­kontrol­len beste­hen und selbst das 'kleine deutsche Eck' blockieren." 

Die Wahrheit ist:

Es gab ein bzw. zwei Tage vor dem Erscheinen des Leitartikels gerade mal ein einziges deutsches Bundesland, das einen höheren 7-Tage-Inzidenz-Wert hatte als Tirol (näm­lich Thüringen)!

Das sind die Zahlen (je nach Quelle können sie leicht differieren, aber diese Unter­schie­de sind vernachlässigbar gering):

a) Inzidenz in Tirol (18. März 2021): 163,01

[Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1218066/umfrage/coronainfektionen-covid-19-in-den-letzten-sie­ben-tagen-in-oesterreich/#professional (aufgerufen am 27.3.2021)]

b) Inzidenz in den 16 deutschen Bundesländern (Stand 19. März 2021, Aus­zug):

- Höchstwert: 186,9 (in Thüringen)

- zweithöchster Wert: 127,1 (Sachsen)

usw.

- geringster Wert: 56,1 (Saarland)

[Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1178874/umfrage/bundeslaender-mit-den-meisten-corona­infek­ti­o­nen-in-der-letzten-woche/ (aufgerufen am 22.3.2021)]

Es sind also keineswegs "manche deutsche Bundesländer", die zur fraglichen Zeit höhere Inzidenzwerte als Tirol gehabt hätten. Diese Formu­lie­rung ist eindeutig falsch. Ohne das jetzt in allen Details darzulegen (auf duden.de kann man die Einzelheiten beim Stichwort "manch" nachlesen): "Manche" ist jedenfalls mehr als "einer/eines". Laut Duden setzt "manche" sogar die Existenz einer "ins Gewicht fallenden" Anzahl voraus. Das kann bei einem einzigen Element (hier: Bundesland Thüringen) unmöglich der Fall sein. (Sogar bei zwei oder drei von 16 Bundesländern könnte man streiten, ob das eine "ins Gewicht fallende Anzahl" ist.)  

Grundsätzlich wären solche tiefschürfenden sprachlichen Analysen zuge­gebener­maßen als Haarspaltereien anzusehen. Aber man kann bei der Chef­redakteurin einer großen Zeitung davon ausgehen, dass sie den korrekten Umgang mit der Sprache beherrscht. Der Passus hätte natürlich lauten müssen: "Inzwischen hat ein deutsches Bundes­land bereits höhere Werte als Tirol, […]." Das ist Salomon sicherlich klar, und es ist daher auszuschließen, dass es sich bei der von ihr gewählten Formulierung im Plural um einen simplen sprachlichen Ausrutscher handelte (der als solcher in der Tat belanglos wäre).

Damit wird das Ganze zu weitaus mehr als einer rein grammatikalischen Angelegenheit. Denn Salomons Formulierung transportiert ohne jeden Zwei­fel eine Unwahrheit. Frag­lich könnte lediglich sein: 

- Geschah das bewusst (= Lüge)? Nach dem Motto: "Aus eins mach' meh­re­re = 'manche'."; in der Absicht, Deutschland schlechter bzw. Tirol besser dastehen zu lassen, als sie es tatsächlich sind, und so einen Vorwand zu haben, um gegen "schikanöse" Grenzkontrollen zu polemisieren.

- Oder beruht die wundersame Vermehrung deutscher Bundesländer mit ver­meintlich höherer Inzidenz als jener Tirols "nur" auf einer Schlampigkeit bei der Recherche über die einschlägigen Zahlen?

Um ein Fehlverhalten der Chefredakteurin handelt es sich so oder so.