Dienstag, 29. März 2022

Das ist nicht tapfer, Frau Jelinek!

Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek hat auf ihrer Homepage einen Text zum Ukraine-Krieg veröffentlicht: https://www.elfriedejelinek.com/f-ukraine.htm

Formal handelt es sich dabei um einen Appell an Russinnen und Russen, nicht der offiziellen Propaganda bzw. den Lügen des Kremls Glauben zu schenken, sondern zu protestieren und die Wahrheit über den Krieg und die Machenschaften Putins auszusprechen.

Der Text hat mich veranlasst, an Frau Jelinek eine E-Mail zu schreiben, deren Ausführungen ich hier – über weite Passagen wortgleich – wieder­geben möchte. Weil ich mich aber jetzt an eine breitere Leserschaft wende, habe ich die direkte Anrede der Adressatin in den Formulierungen modifiziert; und an ein paar Stellen habe ich relativ geringfügige Änderun­gen und Ergänzungen vorgenommen. 

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Gerade von Elfriede Jelinek hatte ich mir erhofft, einen Kommentar zum Ukraine-Krieg zu lesen, der in einer bestimmten grundlegenden Hinsicht anders klingen würde als das, was derzeit ohnedies so gut wie alle zu dem Thema äußern. Leider – und zu meinem Befremden – bin ich in dieser Hoffnung enttäuscht worden.

In dem (eingangs verlinkten) Text "Ukraine" auf Jelineks Homepage steht zweifellos viel Zutreffendes drinnen. Und ich hätte relativ wenig gegen diese Stellungnahme einwenden können, wenn Jelinek auf drei entlarvende Worte – oder zumindest auf eines davon (das mittlere) – verzichtet hätte: "trotz tapferer Gegenwehr".

Der betreffende Satz lautet vollständig: 

"Die Ukraine steht einer gewaltigen Übermacht gegenüber, der sie trotz tapferer Gegenwehr ausgeliefert ist."

"Trotz tapferer [!] Gegenwehr": So etwas hätte man von der Schalek vor etwas mehr als 100 Jahren auch lesen können. (Alice Schalek war eine österreichische Kriegsberichterstatterin im Ersten Weltkrieg, deren eupho­risch-patriotische Frontkommentare immer wieder Kritik und Spott von Karl Kraus hervorriefen.)

Für "Führer, Volk und Vaterland" zu kämpfen (und genau das geschieht im Moment von Seiten der Ukrainer!), ist in einem Verteidigungskrieg nicht weniger verblödet (weil man sich damit allenfalls selbst an Leib und Leben schadet) und nicht weniger verantwortungslos (weil man damit Dritten schadet) als in einem Angriffskrieg.

Der Publizist Jakob Augstein hat es vor zwei-drei Tagen in einem Video auf der Homepage des Nachrichtensenders "n-tv" mit folgender Feststellung sehr gut auf den Punkt gebracht:

"Das Dorf zu zerstören, um es zu retten – das hat mich tatsächlich nie über­zeugt." (https://www.n-tv.de/mediathek/videos/politik/Bin-dafuer-dass-die-Ukrainer-kapitulieren-article23224804.html )

Im Westen wurde ja wiederholt in hämisch-schadenfroher Weise ange­merkt, dass die naiven Russen angeblich erwartet hätten, bei ihrer Invasion in der Ukraine von der Bevölkerung mit Blumen empfangen zu werden. Anknüpfend an diese Behauptung und in gleichem Sinne wie Augsteins gerade zitierter Satz, lässt sich meine Sicht der Dinge wie folgt zusam­men­fassen:

Hätten die Ukrainer am 24. Februar die einmarschierenden russischen Truppen – pointiert formuliert – mit Blumen statt mit Waffen begrüßt, so wären heute tausende Menschen (auf beiden Seiten) noch am Leben, Millionen aus der Ukraine Vertriebene wären daheim, und (das mittlerweile weitgehend zerstörte) Mariupol wäre eine intakte Stadt.

All dieses Leid unter Berufung auf "Freiheit" (in ihrer von einer skrupel- und  gewissenlosen politischen Führung propagierten und von einem in weiten Teilen verblendeten Volk übernommenen Vorstellung), unter Berufung auf "nationale Souveränität" und auf ähnliche hehre Begrifflichkeiten zu provo­zieren und in Kauf zu nehmen – nein, das ist nie und nimmer "tapfer", wie Frau Jelinek behauptet!

Auch wenn dieser Irrsinn erschreckenderweise gerade wieder vielerorts gerühmt wird (nicht anders als 1914 oder 1939 oder in so vielen anderen Jahren), so hätte ich mir – wie eingangs erwähnt – gerade von Elfriede Jelinek eine (grundlegend) andere Sichtweise erhofft.

Dass ihr an russische Menschen adressierter Appell kein geeigneter Ort für eine solche Fundamentalkritik an der Ukraine wäre, gestehe ich gerne zu. Es ist also nicht so, dass ich eine derartige Kritik in Jelineks Text vermisse. Was ich aber beanstande, ist das kleine, so häufig (hier eben auch von Jelinek) deplatziert verwendete Wörtchen "tapfer". 

Meine erste Reaktion war: Hätte sie es doch weggelassen (oder zumindest einen wertfreien Ausdruck wie "heftige" [Gegenwehr] verwendet). Aber mittlerweile sehe ich das anders: Es ist schon gut, dass sie das so geschrieben hat. Denn es ermöglichte mir die (wenn auch traurige) Erkennt­nis, dass sogar Elfriede Jelinek den engstirnigen, konventionellen, immer wieder unheilbringenden und übrigens durch und durch patriar­chalischen Vorstellungen von nationaler Ehre anhängt, welche im sogenannten Ernstfall durch tapfere Männer (!) (bekanntlich trifft nur sie in der Ukraine die Pflicht zu Wehrdienst und Krieg­führen) vertei­digt wird.

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PS: Meine eigenen Gedanken zum Ukraine-Krieg habe ich schon am 28. Fe­bruar ausführlicher formuliert: https://enalexiko.blogspot.com/2022/02/gedanken-zum-ukraine-krieg.html

Was sich in dem seither vergangenen Monat in der Ukraine abgespielt hat, bekräftigt meine damaligen Überlegungen.