Donnerstag, 10. November 2022

Das Problem mit dem Nettsein

Guido Tartarotti – sozusagen der Harmonie- und Gute-Laune-Onkel in der Tageszeitung "Kurier" – veröffentlichte dort gestern (9. November 2022) in der Kolumne auf Seite 1 unter dem Titel "Nettsein leicht machen" einen Kommentar, in dem er unter Anderem Folgendes empfiehlt:

"Vielleicht ist das ja ein Weg, sich und einander das Leben erträglicher zu gestalten: Nett sein, auch wenn es schwerfällt. Und es den anderen leichter machen, nett zu sein. Nett sein macht uns zu Menschen."

Und das klingt ja auch nett, ist aber realitätsfremd und deshalb naiv.

Es drängte sich für mich geradezu auf, Tartarottis Worte mit dem in Ver­bin­dung zu setzen, was sein Redaktionskollege Andreas Schwarz nur einen Tag zuvor im Kurier an der gleichen Stelle kundgetan hatte: 

Unter der Überschrift "Vermüllung" beklagt sich Herr Schwarz in der Ausgabe vom 8. November 2022 über die Lautstärke beim Telefonieren im öffentlichen Raum – und zwar beim Telefonieren "per Facetime", bei dem "das Handy weit vom Face weggehalten wird, damit die Sprechenden einander auch sehen". Dadurch höre man auch beide, und zwar "laut ver­nehmlich".

So weit, so belanglos. Bemerkenswert ist allerdings folgender Satz, den Herr Schwarz geschickt – nein, perfid – in seinen Text eingebaut hat: 

"Okay, meist versteht man das Gesagte eh nicht, weil – darf man nicht sagen, ist aber so – überwiegend in einer fremden Sprache gefacetimed wird."

Also zunächst einmal: Schwarz und seinesgleichen dürfen bekanntlich ohnedies so gut wie alles sagen. Denn sobald jemand dieses Prinzip in Zweifel zu ziehen wagt, wird eine solch unverschämte Person von der Meute der Journalist/innen umgehend mit den Vorwürfen "Zensur", "Eingriff in die Pressefreiheit" und "Demokratiegefährdung" eingedeckt und mundtot ge­macht. (Man kennt den gleichgelagerten Mechanismus übrigens auch in anderen Bereichen: Kritik an einem Roman, Film, Theaterstück, Lied etc.? = Zensur und Eingriff in die Freiheit der Kunst / Kritik an Israel? = Anti­semi­tismus / Kritik an der Ukraine? = Unterstützung Putins, usw.)  

Aber das sind abstrakte Überlegungen – denn natürlich hat es Herr Schwarz ja eh gesagt. Ganz ungeniert und frei von der Leber weg, so wie es im Kurier (und auch sonst hierzulande) gang und gäbe ist.

Die Perfidie besteht darin, dass er seine xenophobe Botschaft ohne jede Notwendigkeit in einen Text einbaute, für dessen Gegenstand das Thema Ausländer bzw. Zuwanderung (oder hat er etwa telefonierende Touristen gemeint?) keinerlei Rolle spielt: Wenn zu lautes Telefonieren stört, dann tut es das doch wohl ganz oder weitgehend unabhängig von der Sprache, in der es geschieht. 

Allerdings packt Schwarz gleichsam eine weitere Perfidie in die Perfidie hinein, indem er unterstellt, dass die von ihm beanstandete Art des Telefonierens "überwiegend" in einer fremden Sprache erfolge. Schon ist der Konnex zwischen einem Missstand (bzw. dem, was Herr Schwarz als solchen empfindet) und den Ausländern hergestellt. Ohne jeden fundierten Nachweis, versteht sich; ein kategorisches "ist aber so" aus Journalis­ten­feder hat gefälligst zu genügen.

Schwarz' kleiner, aber übler Satz hat mich sofort an eine recht ähnliche (freilich noch schäbigere) Äußerung seiner Chefredakteurin (damals war sie's noch nicht) erin­nert: Im Februar 2016 hatte die famose Frau Dr. Salo­mon einen Artikel geschrieben, auf den ich damals hier in meinem Blog unter Anderem mit einem Kommentar unter dem Titel "Fasching und Flücht­lings­krise" rea­gier­te:

https://enalexiko.blogspot.com/2016/02/fasching-und-fluechtlingskrise.html 

Es stünde Herrn Schwarz gut an, sich ruhig den gesamten Blogeintrag hinter die Ohren zu schreiben, wie man so schön sagt. Im gegebenen Zusammen­hang von Interesse ist jedoch vor allem dessen Schluss. Dort nahm ich Bezug auf folgende ungeheuerliche Bemerkung, die Salomon schon kurz davor (am 30. Jänner 2016) in einem Leitartikel formuliert hatte:

"Es ist nicht einmal mehr sicher, dass wir ein christlich geprägtes Land sind, in dem man Deutsch spricht. Bei so mancher U-Bahn-Fahrt in Wien wird man eines Besseren belehrt." 

Die Parallelen zwischen den Aussagen von Schwarz und Salomon sind unverkennbar. Weitaus brisanter und entlarvender ist aber der ebenso un­ver­kennbare Gleich­klang mit dem, was seinerzeit aus Paula Wesselys Munde zu hören war; nämlich 1941 in ihrer Rolle als Marie im NS-Pro­pa­gandaspielfilm "Heim­kehr":

"Denkt doch bloß Leute, wie das sein wird. Denkt doch bloß; wenn so um uns rum lauter Deutsche sein werden – und nich', wenn du wo in einen Laden reinkommst, dass da einer jiddisch redet oder polnisch, sondern deutsch." 

Dieses Zitat hatte ich bereits in meinem damaligen Blogeintrag wieder­gegeben. Außerdem hatte ich auf ein Youtube-Video mit dem entspre­chenden Filmausschnitt verlinkt. Wie ich festgestellt habe, kann dieses Video allerdings mittlerweile nicht mehr aufgerufen werden. Es wurde nämlich (auf YouTube) entfernt, "weil es gegen die YouTube-Richtlinien zu Hassreden ('Hate Speech') verstößt" (!).

Spätestens dieser Umstand sagt einiges darüber, in welchem Dunstkreis sich ein Herr Schwarz (und zugegebenermaßen noch viel deutlicher eine Frau Dr. Salomon) mit ihren zitierten Feststellungen bewegen. 

Und damit komme ich wieder auf Herrn Tartarotti zurück:

Nehmen wir mal (theoretisch) an, sein Appell zum Nettsein wäre ernst zu nehmen und auf den vorliegenden Fall anzuwenden: Wer soll sich jetzt angesprochen fühlen? Schwarz, Salomon und Konsorten (in ihrer Einstellung und ihrem Ton gegenüber Ausländern)? Naiv. Da wird Herr Tartarotti lange darauf warten können. Oder etwa ich (in meiner Einstellung und meinem Ton gegenüber Schwarz, Salomon und Konsorten)? Ebenso naiv. Kaum etwas läge mir ferner, als gegenüber solchen Leuten eine wie auch immer defi­nierte Geste des Nettseins zu setzen.