Sonntag, 2. Juni 2019

Zwei neue Stars hat das Land


1. Eine Ablöse

Der Tod des ehemaligen Autorennfahrers Niki Lauda (am 20. Mai) ist in eine Zeit gefallen, als Österreich gerade mitten in einer politischen Krise steckt(e). Dadurch ist das absurde nationale Heldengedenken um seine Person glücklicherweise etwas in den Hintergrund gerückt. (Die völlig irrationale Verehrung, die jemandem wie Lauda jahrzehntelang – und kon­se­quenterweise auch aus Anlass seines Ablebens – zuteil wurde, wäre so­wie­so einer eigenen Betrachtung wert.)

Jedenfalls wurde der eine dümmliche nationale Personenkult durch einen anderen überlagert bzw. nahtlos abgelöst. Mehr oder weniger zeitgleich mit Laudas Tod hat Österreich sogar zwei neue Stars für sich entdeckt: den amtierenden Bundes­präsidenten Alexander Van der Bellen und seit gerade mal drei Tagen die bisherige Präsidentin des Verfassungs­gerichts­hofes, Brigitte Bierlein.

Dass es für die ziemlich einhellige Begeisterung über diese beiden Perso­nen weder im einen noch im anderen Fall einen plausiblen Grund gibt, werde ich im Folgenden darlegen.


2. Die Vorgeschichte

Zunächst seien zum besseren Verständnis die wesentlichen Punkte der Vorgeschichte erwähnt. Ich nenne dabei mit Absicht auch die einschlägigen Bestimmungen der Bundesverfassung (B-VG), weil mir das für die anschlie­ßen­de Kommentierung der Rolle Van der Bellens während der letzten Zeit wesentlich erscheint. (Wer über all das ohnedies Bescheid weiß oder sich dafür nicht interessiert, kann an dieser Stelle direkt zu Pkt. 3.1 "Grundlose Mythenbildung" springen.)

• Am Freitag, 17. Mai 2019, wird um zirka 18 Uhr in den Medien das sogenannte "Ibiza-Video" veröffentlicht, in welchem sich die FPÖ-Politiker Johann Gudenus und Heinz-Christian Strache politisch und moralisch desavouierten. Als Reaktion geben beide Politiker am 18. Mai gegen Mittag den Rücktritt von ihren zuletzt ausgeübten politischen Ämtern bekannt: Gudenus tritt als Nationalratsabgeordneter und FPÖ-Klub­obmann zurück, Strache als Bundesminister (für öffentlichen Dienst und Sport) und gleich­zeitiger Vizekanzler, weiters als Bundesparteiobmann und Wiener Landes­partei­obmann der FPÖ.

• Am Abend des 18. Mai – also etwa 24 Stunden nach Bekanntwerden des Videos – erklärt Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) die Koalition mit der FPÖ für beendet und kündigt Neuwahlen an. Grund war offensichtlich nicht der Inhalt des Ibiza-Videos, sondern der Umstand, dass die ÖVP auch die Ablöse des FPÖ-Innenministers Herbert Kickl verlangte und die FPÖ dieser Forderung nicht entsprechen wollte. Über dieses Thema hatten die beiden Parteien anscheinend einen Großteil des Samstags verhandelt.

• Nach Kurz äußert sich Bundespräsident Van der Bellen. Auf die Person Kickls geht er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ein. Er erklärt allgemein:

"Wir alle müssen unseren Institutionen vertrauen können. Das ist das Fundament unserer Demokratie. Wenn dieses Vertrauen derart grund­sätz­lich erschüttert ist, steht die Handlungsfähigkeit einer Regierung in Frage. Das ist jetzt der Fall.
[…]
Ich habe in diesem Sinne mit Bundeskanzler Kurz vorgezogene Wahlen in Österreich besprochen und werde morgen Vormittag in einem weiteren Treffen die nächsten Schritte mit ihm vereinbaren."

Eine im Wesentlichen ähnliche Stellungnahme gibt Van der Bellen nochmals am folgenden Tag (19. Mai) ab. Er

"plädiere […] für vorgezogene Neuwahlen im September".

• Am 21. Mai beantragt Kurz beim Bundespräsidenten die Entlassung Kickls aus der Bundesregierung. Die FPÖ hatte bereits zuvor angekündigt, dass im Fall des erzwungenen Ausscheidens Kickls auch die übrigen FPÖ-Minister/innen die Regierung verlassen würden.

Dementsprechend erklärt Van der Bellen:

"Heute hat mich Bundeskanzler Kurz ersucht, den Innenminister zu entlas­sen.

Und er hat mich informiert, dass daraufhin alle anderen von der FPÖ nominierten Bundesminister und der Staatssekretär um Enthebung vom Amte bitten.

Die Außenministerin hat sich bereit erklärt, ihr Amt während der Über­gangs­regierung weiter auszuüben.

Ich beabsichtige diesem Ersuchen zu entsprechen."

Über die weitere Vorgangsweise sagt er:

"Ich hatte den Herrn Bundeskanzler daher umgehend ersucht bzw. beauf­tragt, mir neue Minister für diese Ämter vorzuschlagen, damit ich sie gemäß Artikel 70 unserer Öster­rei­chi­schen Bundesverfassung in weiterer Folge ernennen kann.

Für die Phase des Überganges bis zum Herbst und vor allem um das Ver­trauen wieder­aufzubauen, ist es selbstverständlich, dass diese Minister­ämter nur von untadeligen Expertinnen und Experten besetzt werden. […]"

• Am Tag darauf, also am 22. Mai, werden die angekündigten Schritte auch formal umgesetzt. Der Bundespräsident führt diesbezüglich aus:

" […]
Ich komme nun zur Entlassung und Enthebung der bisherigen Mitglieder der Bundes­regierung sowie zur Ernennung und Angelobung der künftigen Mit­glieder der Bundes­regierung.

(...)

Auf Ihren Vorschlag, Herr Bundeskanzler, entlasse ich gemäß Artikel 70 Absatz 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes den Bundesminister für Inneres, Herrn Herbert Kickl.

Weiters enthebe ich auf deren eigenen Wunsch gemäß Artikel 74 Absatz 3 des Bundes-Verfassungsgesetzes den Vizekanzler und Bundesminister für öffentlichen Dienst und Sport, Herrn Heinz-Christian Strache,
die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumenten­schutz, Frau Beate Hartinger-Klein,
den Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie, Herrn Norbert Hofer,
den Bundesminister für Landesverteidigung, Herrn Mario Kunasek, 
und gemäß Artikel 74 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 78 Absatz 2 den Staats­sekretär im Bundesministerium für Finanzen, Herrn Hubert Fuchs,
von ihren Ämtern."

Auf das Wesentliche zusammengefasst, wurden gleichzeitig (wiederum über Vorschlag des Bundeskanzlers) vier neue Personen vom Bundespräsidenten als Regierungs­mitglieder ernannt und angelobt (wiederum gestützt auf Art. 70 Abs. 1 B-VG).

Nach den Vorstellungen Van der Bellens und Kurz' würde diese Über­gangs­regierung – gebildet aus den bisherigen ÖVP-Minister/innen und den vier neuen (parteiunabhän­gigen) Fachleuten – bis zu den geplanten Neuwahlen im September (sowie in der Zeit danach bis zur Bildung einer neuen Regierung) ihr Amt ausüben.

• Dazu sollte es jedoch nicht kommen. In den meisten Oppositionsparteien (einschließlich nunmehr der FPÖ) wird in den folgenden Tagen der Ruf lauter, dem Bundeskanzler oder der soeben konstituierten Regierung insge­samt das Misstrauen auszusprechen.

Letzteres geschieht dann am Montag, dem 27. Mai:

Ein im Nationalrat von der SPÖ eingebrachter Misstrauensantrag (gegen die gesamte Regierung) wird mit den Stimmen dieser Partei, der FPÖ und der Kleinpartei "Jetzt" mehrheitlich angenommen (Art. 74 Abs. 1 B-VG iVm Art. 78 Abs. 2 B-VG). (Die Neos stimmten als einzige Oppositionspartei nicht für den Misstrauensantrag.)

• Der Bundespräsident ist nun verpflichtet, die Bundesregierung ihres Amtes zu entheben (Art. 74 Abs. 1 B-VG). Er macht das am folgenden Tag, also am 28. Mai.

Da ja noch keine neue Regierung zur Verfügung steht, betraut Van der Bellen die scheidende Regierung mit der Fortführung der Verwaltung. Auch dies geschieht auf dem Boden der Bundesverfassung, nämlich gemäß Art. 71 B-VG. (Der bisherige Bundeskanzler Kurz wollte seine Funktion offenbar nicht mehr weiter ausüben. Deshalb übertrug Van der Bellen dessen Agenden an den bisherigen Finanzminister Löger, gleichfalls gestützt auf Art. 71 B-VG.)

• Zwei Tage später, also am Donnerstag, 30. Mai, gibt Van der Bellen bekannt, dass er in einigen Tagen die amtierende Präsidentin des Verfas­sungs­gerichtshofes, Brigitte Bierlein, zur Bundeskanzlerin ernennen werde.

Bierlein tritt bereits gemeinsam mit dem Bundespräsidenten auf und gibt eine erste, naturgemäß sehr allgemein gehaltene Erklärung ab. Sie nennt aber bereits zwei konkrete Namen künftiger Regierungsmitglieder: Justiz­minister (und Vizekanzler) soll der frühere Präsident des Verwaltungs­ge­richts­hofes, Clemens Jabloner, werden; als Außen- sowie Europaminister ist Alexander Schallenberg (derzeit Leiter der Europasektion im Bundes­kanz­ler­amt) vorgesehen.


3.1. Grundlose Mythenbildung

Das eben unter Pkt. 2 geschilderte Geschehen ist im Wesentlichen der Ablauf und der Stand der Dinge zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Blog-Artikels. Während in den Medien und anscheinend auch unter einem Großteil der Bevölkerung bis Donnerstag teils geradezu panische Besorgnis darüber herrschte, ob denn die gebetsmühlenartig ins Treffen geführte "Stabilität" des Landes Bestand haben werde (eine natürlich durch und durch lächerliche Besorgnis), dominiert seit dem Auftritt der neuen Star-Zwillinge Van der Bellen und Bierlein im Handumdrehen eine positive, erleichterte bis euphori­sche Stimmung.

Gelobt wird einerseits von Vielen der Bundespräsident, der sein Amt in dieser Krisenzeit so souverän und besonnen und klug (und was weiß ich noch alles) ausgeübt habe. Die FPÖ-Gegner fügen auch gerne hinzu, wie froh und erleichtert man sein müsse, dass Van der Bellen und nicht "ein Anderer" (nämlich sein Konkurrent Norbert Hofer) in dieses Amt gewählt wurde.

Und wohl noch breitere Zustimmung – nämlich explizit auch jene von Seiten der FPÖ – findet die designierte Bundeskanzlerin, also Brigitte Bierlein. Besonders erfreut über deren bevorstehende Ernennung zeigen sich auch feministisch orientierte Frauen, wo es doch jetzt erstmals eine Geschlechts­genossin in diese hohe politische Funktion geschafft habe.

Ich kann mich jedenfalls wieder nur einmal darüber wundern, wie undurch­dacht, ja irrational und abseits jedweder nüchterner Betrachtung der Situation einzelne Personen zu Sympathieträgern, Stars, Helden, Idolen, Leitfiguren usw. hochgejubelt werden.


3.2. Brigitte Bierlein

Beginnen wir bei Bierlein:

Man kann wohl davon ausgehen, dass sie einer breiteren Öffentlichkeit erstmals vor gerade drei Tagen bekannt geworden ist; also am Donnerstag, als sie (wie oben ausgeführt) an der Seite des Bundespräsidenten eine erste kurze Stellungnahme zu ihrer bevorstehenden Ernennung abgab. Einige Leute (auch außerhalb der juristischen Fachkreise) werden wahr­schein­lich schon vorher gewusst haben, dass sie (seit Februar 2018) Präsi­dentin des Verfassungsgerichtshofes ist (und zuvor rund 15 Jahre dessen Vizepräsidentin war); allenfalls werden manche ein-zwei Zeitungsinterviews mit ihr gelesen haben.

Das war's dann aber auch schon. Mehr ist der Öffentlichkeit über Frau Dr. Bierlein bzw. über ihre beruflichen Tätigkeiten nicht bekannt; und das kann es naturgemäß auch gar nicht sein – einfach, weil sich all diese Tätigkeiten (sei es als Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, sei es früher als Staats­an­wältin, als Generalanwältin in der Generalprokuratur usw.) nicht vor den Augen der breiten Bevölkerung, ja großteils sogar unter völligem Ausschluss der Öffentlichkeit abspiel(t)en.

Natürlich mag es psychologisch eine wohltuende Abwechslung sein, einmal eine Nicht-Politikerin als künftige Bundeskanzlerin dort stehen und reden zu sehen, wo man sonst (via Fernsehschirm) in ähnlichen Situationen nur Polit-Profis zu Gesicht bekommt. Und es hat sicherlich einen gewissen Reiz des Neuen, wenn diese Frau nicht glatt-routiniert ihre erste Stellungnahme aus dem Ärmel schüttelt, sondern diese eher verschüchtert und Wort für Wort von ihren Zetteln abliest.

Das möchte ich all den am Donnerstag wie aus dem Nichts aufgetauchten Bierlein-Fans durchaus konzedieren. Aber das kann (oder besser gesagt: das sollte) doch in keinem Fall ausreichen, um sich über die Trägerin eines der bedeutendsten politischen Ämter des Staates ein (Wert-)Urteil zu bilden.

Wie grotesk die Situation ist, ersieht man daran, dass sich beispielsweise in den Internet-Foren von Zeitungen schon zahlreiche Personen mit der Idee zu Wort gemeldet haben, man möge doch in Anbetracht der bevorstehenden Ernennung Bierleins (plus jener von Jabloner und Schallenberg) auf die Abhaltung von Neuwahlen im Herbst überhaupt verzichten und statt dessen die im Entstehen begriffene Expertenregierung gleich bis zum regulären Ende der Legislaturperiode (2022) durcharbeiten lassen.

Zwar mag die Vorstellung einer länger im Amt befindlichen Experten­regie­rung allenfalls einen gewissen Reiz haben – aber doch nie und nimmer zum jetzigen Zeitpunkt, wo man von drei beteiligten Personen noch so gut wie nichts weiß, von den Anderen nicht einmal die Namen kennt und diese (künftige) Regierung noch gar nicht existiert, geschweige denn ihr Amt auch nur einen einzigen Tag ausgeübt hat! Es ist völlig irrational, wie manche Leute denken.

Was nun konkret Bierlein betrifft, so beruht meine Kritik an der Kollektiv-Freude über ihre bevorstehende Ernennung vor allem auch darauf, dass ich wohl behaupten kann, sie fachlich um Einiges näher zu kennen, als dies bei den allermeisten Jubler/innen der Fall sein wird. Bei aller gebotenen Diskretion erlaube ich mir deshalb folgende, bewusst vorsichtig formulierte Einschätzung abzugeben:

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Bierlein der ideologischen Linie der bisherigen ÖVP-FPÖ-Regierung weitaus mehr entspricht, als jene vermuten würden, die sich über ihre Ernennung zur Kanzlerin derzeit so naiv-unkritisch freuen.

Dass den beiden Parteien ÖVP und FPÖ die Ernennung zusagt, ist also klar. (Nicht umsonst haben sie sogar einschließlich des blauen Hardliners Kickl auf die Ankündigung vom Donnerstag umgehend und vorbehaltlos positiv reagiert.) Aber was um alles in der Welt veranlasst (tatsächliche oder vermeintliche) Linke oder auch nur "links der Mitte" Stehende dazu, den Umstand zu begrüßen, dass eine solche Frau Kanzlerin wird? Nämlich eine Frau, bei der man davon ausgehen kann, dass sie weltanschaulich im Wesentlichen eine konsequente Fortsetzung von Türkis-Blau darstellt – halt nicht mit der Stampiglie "Politikerin", sondern mit der Stampiglie "Expertin". (Dass eine bloße Übergangskanzlerin voraussichtlich eher zurückhaltend agieren und wahrscheinlich ohnedies nicht viele Gele­gen­heiten zu einer ideologisch ausgerichteten Amtsführung haben wird, liegt nahe, ändert aber nichts am prinzipiellen Befund.)

Jedenfalls kann ich mich nur darüber wundern, wie Linke oder Pseudo-Linke die bevorstehende Ernennung kommentierten.

Ich greife nur zwei Beispiele heraus:

Die (für mich aus verschiedenen Gründe pseudo-linke) SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner meinte:

"Klarerweise freue ich mich persönlich sehr über die Entscheidung des Bundespräsi­denten, Brigitte Bierlein zur Übergangskanzlerin in dieser schwie­ri­gen Zeit zu machen."
(ORF, "Zeit im Bild 1", 30. Mai)

Warum das klar ist, bleibt zwar völlig offen. (In der Sendung war auch nur der eben zitierte Satz von ihr zu hören). Aber dass von Rendi-Wagner politisch absolut nichts zu halten ist, wusste ich ohnehin schon lange.

Das zweite Beispiel ist wahrscheinlich interessanter: Julya Rabinowich ist unter anderem Schriftstellerin und Theaterautorin; sie hat (zum Beispiel in Artikeln in der Zeitung "Der Standard") immer wieder massive Kritik an der nunmehr abgewählten ÖVP-FPÖ-Regierung geübt, und sie hat sich (soweit mir bekannt) auch unmissverständlich für Flüchtlinge engagiert.

Wenn man Bierlein ein bisschen kennt, kann man sich daher nur fassungslos wundern, wie naiv Rabinowich der Personalentscheidung des Bundes­präsi­denten gegenüber­steht:

Gleich nach Bekanntwerden der freudigen Nachricht postete Rabinowich auf Twitter im Stil eines Teenagers, der soeben von einem bevorstehenden Auftritt seines Pop-Idols erfahren hat:

"YeaHHHHH!!! VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein wird Kanzlerin"

Etwas später meinte sie:

"Auch die weitere Entwicklung klingt doch fein und beruhigend. Bierlein wird Übergangskanzlerin"

Und auf ein Posting von Nikolaus Kern, welches lautet:

"Wozu brauchen wir momentan eigentlich noch Neuwahlen?
Ernstgemeinte Frage."

reagierte Rabinowich mit folgendem Kommentar:

"Ich gewinne immer mehr Bauchschmetterlinge bei diesem Gedanken­gang."

Unfassbar, welch naive Traumtänzer/innen es in Österreich gibt.

Einzig und allein zwei Motive scheinen bei vielen "linken" Bierlein-Sympa­thi­sant/innen eine Rolle zu spielen: "Sebastian Kurz ist nicht mehr Kanzler!" Und bei den Feministinnen unter ihnen zusätzlich: "Hurra, es ist eine Frau!" (Jubeln sie einer Frau allein deshalb zu, weil sie es in eine Spitzenposition geschafft hat?)

Wenn Menschen mit einer derart unreflektierten Geisteshaltung dann auch noch zu den (Links-)Intellektuellen des Landes zählen (wie zum Beispiel  Frau Rabinowich), wird die Sache besonders unerfreulich und deprimierend.


3.3. Alexander Van der Bellen

Ich habe von ihm bereits in der ersten Phase seiner Amtszeit nicht viel gehalten und das auch hier im Blog begründet (siehe die Einträge "Tabubruch und Rückzieher" und "Ein schwacher Bundespräsident"). Man sollte in der nunmehrigen Situation vor allem auch nicht vergessen, dass er es war, der die nunmehr gestürzte Regierung nicht nur angelobt, sondern sie geradezu in ihr Amt gegrinst hatte.

Was jedoch Van der Bellens Vorgehen in der politischen Krise seit Be­kannt­werden des Ibiza-Videos betrifft, so gibt es bei neutraler und strikt juristi­scher Be­trach­tung an ihm meines Erachtens nichts zu kritisieren. Er hat das getan, was die Bundesverfassung in solchen Situationen vorsieht. Nicht mehr und nicht weniger. Genau das ist aber der Grund, warum es auch nichts groß an ihm zu loben gibt, wie das in den letzten zwei Wochen leider österreichweit üblich geworden ist.

Ironisch formuliert: Wer lesen kann und weiß (oder von seinen Beratern gezeigt bekommt), an welchen Stellen der Verfassung er nachschlagen muss, der bringt das mühelos zustande, was Van der Bellen in den letzten zwei Wochen gemacht hat.

Der Rechtshistoriker Thomas Olechowski hat es neulich treffend so ausge­drückt:

"Es ist eine besondere politische Situation da – und genau hier bewährt sich die Verfassung [Anm.: aus 1920/29]. Genau hier sieht man, dass man sich schon vor hundert Jahren das genau vorstellen konnte, wie es passieren könnte. All diese Vorgänge der letzten Tage sind genau vorgezeichnet; und sie sind auch ganz genau eingehalten worden."
(ORF, "Zeit im Bild 2", Mittwoch, 29. Mai)

Sogar der Bundespräsident selbst hat – wenngleich in etwas eigenartiger Wortwahl – mehrmals zugegeben, dass immer völlig klar war, wie er vor­zu­gehen hat. (Deshalb ist ihm auch keine Schuld am gegenwärti­gen Kult um seine Person zu geben.) Beispielsweise meinte er am 27. Mai in Zusam­men­hang mit der Entlassung der Regierung Kurz infolge des parla­menta­rischen Miss­trauens­votums:

"Das ist zwar kein alltäglicher, aber doch im Grunde genommen ein ganz normaler, demokratischer Vorgang.

Und was mich dabei beruhigt: Wir haben unsere elegante österreichische Bundesverfassung, die uns durch diese Tage leitet.

Und auf die Bundesverfassung ist Verlass."

Mit anderen Worten: Der Staat (oder auch nur dessen "Stabilität") stand in keinem Moment vor dem Zusammenbruch – und das ist nicht das Verdienst eines heldenhaften Bundespräsidenten. Es genügte, dass er in die Verfas­sung schaute und umsetzte, was dort für die betreffenden Situationen vor­ge­geben ist.

Manche überschlagen sich dennoch vor Lobhudelei für die Person Van der Bellens. Nur ein Beispiel sei zur Veranschaulichung genannt: Auf dem Twitter-Konto des Bundespräsidenten ist seine eben auszugsweise zitierte Stellungnahme auch veröffentlicht; und dort veranlasste sie einen (mir unbe­kannten) Christian Müller zu folgendem Kommentar:

"Es ist schon sehr beachtenswert wie Sie mit ihrer Ruhe, Gelassenheit, Wertschätzung, Sicherheit, Besonnenheit und Menschlichkeit gerade diese Werte vorleben, die in den letzten Monaten verloren gegangen schienen. Vielen Dank"
(https://twitter.com/Christi11930089/status/1133111926265929728)

Wie schon oben erwähnt: Ich finde nicht, dass Van der Bellen bei den Ereignissen der letzten Zeit juristisch-objektiv einen Fehler gemacht hat. Aber es ist absurd, diese Selbstverständlichkeit zur Mythenbildung und zu einer Art Personenkult hochzuspielen.

In politischer Hinsicht gab es für den Bundespräsidenten freilich gewisse von der Verfassung eingeräumte Spielräume, die er auch anders (aus meiner Sicht vielleicht sogar besser) hätte nützen können.

Auch das bestätigt Olechowski in seiner Stellungnahme im ORF. Er meint (auf die Frage: "Hätte die politisch völlig neue Situation [der letzten Tage] sich auch anders entwickeln können?"):

"Natürlich wäre es [auch] anders gegangen. Ein anderer Bundespräsident (wir haben eine sehr umstrittene Bundespräsidentenwahl gehabt) hätte vielleicht anders reagiert. Das ist jetzt eine schwierige Frage ('Was wäre, wenn …?'), ob es dann konfrontativ gewesen wäre. So oder so hätte alles auf Neuwahlen hinauslaufen müssen."
(ORF, "Zeit im Bild 2", Mittwoch, 29. Mai)

Der letzte Satz Olechowskis zeigt, dass der Endeffekt ganz unspektakulär der gleiche gewesen wäre wie unter Van der Bellen: Neuwahlen. Anders gesagt: Auch wenn der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer die Bundespräsi­den­tenwahl gewonnen hätte, wäre es jetzt zu keinem Militärputsch, keiner Ausrufung einer Diktatur von FPÖ-Politikern, zu keinen Massen­ver­haftungen von Regierungsgegnern oder anderen Horrorszenarien ge­kom­men, die offenbar diffus in den Köpfen jener herumspuken, die derzeit erleichtert ausrufen: "Wie gut, dass 'wir' jetzt Van der Bellen (die ganz Infantilen sagen auch: 'den Sascha') in der Hofburg haben. Nicht auszu­denken, wenn Hofer jetzt Präsident wäre."

Dabei lässt sich das recht gut ausdenken:

Der wahrscheinlich entscheidendste Punkt, in dem sich das Verhalten Hofers von jenem Van der Bellens vermutlich unterschieden hätte, betrifft das Schicksal Herbert Kickls als Innenminister.

Vorauszuschicken ist, dass wir gar nichts über die Hintergründe der Entlas­sung Kickls wissen: Hat Kurz von sich aus die FPÖ (erfolglos) zur Ablöse Kickls gedrängt (und die Ablöse zur Bedingung der Fortsetzung der Koalition gemacht)? Oder war es Van der Bellen, der auf Kurz dahingehend Druck ausgeübt hat, die Gunst der Stunde – nämlich den Rücktritt Straches – zu nützen, um gleich auch den umstrittenen Innenminister aus der Regierung zu entfernen?

Wir werden das wohl nie erfahren. Faktum ist, dass Kurz dem Bundes­präsidenten den "Vorschlag" (gemäß Art. 70 B-VG) gemacht hat und Van der Bellen diesem Vorschlag entsprochen hat. Verpflichtet wäre er nach der herrschenden Lehre dazu wohl nicht gewesen.

Gibt es also rechtlich keine Bindung des Bundespräsidenten, dem Vorschlag des Kanzlers auf Entlassung eines Ministers zu folgen, wäre nachstehendes hypothetisches Szenario vorstellbar:

Sofern Kurz auch unter einem Bundespräsidenten Hofer die Entlassung Kickls als Innenminister vorgeschlagen hätte (wir wissen ja gar nicht, ob es unter Hofer überhaupt dazu gekommen wäre – persönlich zweifle ich daran), so hätte Hofer dazu wahrscheinlich "Nein" gesagt. Zerbrochen wäre die Regierungskoalition damit wohl ebenso, wie das in der Realität der Fall war. Auslöser wäre halt nicht eine Konfrontation "Kanzler im Bündnis mit dem Präsidenten versus FPÖ" gewesen, sondern eine Konfrontation "Kanzler versus Präsident im Bündnis mit der FPÖ". Wie immer sich die Geschehnisse dann weiterentwickelt hätten – am Ende wären sicherlich Neuwahlen gestanden (so wie das auch Olechowski in seinen oben zitierten Ausführungen dargelegt hat). In der Zeit bis dahin hätte es vielleicht ebenfalls eine Expertenregierung gegeben, und die Übergangskanzlerin hätte möglicherweise genauso Bierlein geheißen – eingesetzt dann nicht von einem Van der Bellen, sondern von einem Hofer. Das hätte vermutlich massive Proteste der FPÖ-Gegner/innen gegen eine "rechte" Kanzlerin ausgelöst; also genau gegen jene Frau, die nun – wo sie ja der weise und besonnene Staatsvater "Sascha" ernannt hat – denselben Personenkreis zur Einschätzung veranlasst, dass die Entwicklung "fein und beruhigend" sei (siehe Julya Rabinowich).

Schlussfolgerung: Auch mit Hofer als Bundespräsident hätte alles den von der Verfas­sung vorgegebenen Verlauf genommen. Weder wäre der Staat zusammengebrochen noch hätte er sich in eine Diktatur verwandelt.

Nur die naiven Halb- und Pseudo-Linken sowie die Medien wären um die Gelegenheit gebracht gewesen, zwei Personen ohne nachvollziehbaren Grund zu neuen Stars der Republik hochzujubeln.